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Geert Vanden Wijngaert, AP, picture alliance

Auslandsinformationen

Erst allmählich, dann plötzlich

von Peter Rough

Eine Einordnung des US-amerikanischen ­Engagements in Europa in einer Vorkriegswelt

Das internationale Sicherheitsumfeld hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert. Das gilt auch für die Politik in den USA. Ob Isolationisten oder Progressive: Die Ideengeber der US-amerikanischen Außenpolitik bieten ihrem Volk auf der Suche nach Antworten nur alten Wein in neuen Schläuchen an. Es ist noch völlig offen, ob ihre Konzepte sich durchsetzen werden. Die größte Bewährungsprobe für die Europapolitik der Vereinigten Staaten wird aber die Festlegung des Verhältnisses der Ukraine zur NATO sein.

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Vor 25 Jahren lud US-Präsident Bill Clinton die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten nach Washington ein, um das 50-jährige Bestehen des Bündnisses zu feiern. Der gegenwärtig amtierende Präsident Joe Biden hat für die Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen der Organisation in diesem Sommer ebenfalls Einladungen ausgesprochen. Der Jubiläumscharakter ist aber auch schon das Einzige, was die beiden Treffen gemein haben.

Was ist der Grund für diese Diskrepanz? Wie kann es sein, dass zwei Feierlichkeiten zu ein und demselben Bündnis, die nur ein Vierteljahrhundert auseinanderliegen, selbst einem flüchtigen Beobachter des globalen Geschehens so erscheinen, als fänden sie in völlig unterschiedlichen Welten statt? Es besteht kein Zweifel daran, dass sich das internationale Sicherheitsumfeld in diesen 25 Jahren grundlegend verändert hat. Der britische Verteidigungsminister Grant Shapps formulierte es im Januar so: „Der Kreis schließt sich: Wir sind von einer Nachkriegswelt in eine Vorkriegswelt gelangt.“

Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg waren die Vereinigten Staaten von der naiven Überzeugung beseelt, dass freie Märkte und die Globalisierung Moskaus Rivalität mit Washington zähmen würden. Mehr noch: Mit ein bisschen Glück könnten sie sogar die liberale Demokratie nach Russland bringen. Diese Vorstellung war populär und weit verbreitet – und sie war gleichermaßen geschichtsvergessen.

Es war indes leicht, sich nach dem Kalten Krieg an diese idyllische Illusion zu klammern, ohne dass die Wirklichkeit dabei allzu sehr störte. Diejenigen unter uns, die die Realität ausblenden wollten, konnten das in der relativen weltgeschichtlichen Ruhe der ersten zehn Jahre nach Auflösung der Sowjetunion tun – und es wirkte sogar vergleichsweise plausibel. Die Ereignisse des 11. September 2001 waren so gewalttätig, so grausam, dass viele Analysten nachvollziehbar argumentieren konnten, sie hätten sich ganz außerhalb der Geschichte ereignet.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese weltfremden Ansichten ein für alle Mal widerlegt. Bis auf die hartnäckigsten Realitätsverweigerer hat er allen offenbart, dass der Zerfall der internationalen Ordnung, der die Stimmung bei den NATO-Feierlichkeiten in diesem Sommer trüben wird, so vonstattengegangen ist, wie Hemingway einst den Bankrott charakterisierte – nämlich etwas, das „erst allmählich und dann plötzlich“ eintritt. Der neue Normalzustand ist nicht mehr Frieden, sondern Krieg.

Dieser erst allmählich und dann plötzlich eingetretene Zusammenbruch der Illusionen hat zu einem großen Nachholbedarf in der US-amerikanischen Politik geführt. Die Zahl der Sowjet- und Kremlexperten in den Vereinigten Staaten ist in den vergangenen 30 Jahren stetig zurückgegangen. Arabisch sprechende Spezialisten für Aufstandsbekämpfung ersetzten die Veteranen aus der Ära des Kalten Krieges, die sich mit ihrem Wissen über Russland einen Namen gemacht hatten. Wenn das Wesen Russlands „ein Rätsel, eingewickelt in ein Mysterium innerhalb eines Enigmas“ ist, wie Churchill es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs beschrieb, so erscheint dieses Rätsel noch unverständlicher für diejenigen, die Russland heute hinter einem Schleier relativer Unwissenheit betrachten. Das ist ein echtes Problem, denn es ist offensichtlich, dass Russland die von den Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs errichtete internationale Ordnung infrage stellt.

Und diese Herausforderung wird so schnell nicht weggehen. Es ist klar erkennbar, dass Russlands Hardliner-Politik nicht nur die eigenwillige Weltsicht seines Präsidenten Wladimir Putin widerspiegelt. Sie ist vielmehr ein tief verwurzelter Antrieb des politischen Lebens in Russland, der im Laufe der Jahre von Männern wie Nikolai Patruschew und Alexander Bortnikow weiterentwickelt wurde, zwei führende Persönlichkeiten der Silowiki-Elite, unter deren Kontrolle die Sicherheitsdienste stehen und die das heutige Russland lenken. Wenn Putin heute von der Bildfläche verschwände, sähe die Politik des Kremls morgen nicht besser aus.

Seit seinem Einmarsch in die Ukraine hat Russland den Einsatz noch weiter erhöht. Die russische Führung hat taktische Atomwaffen in Belarus stationiert und die Wagner-Gruppe an der Suwałki-Lücke aufgestellt. Putin selbst liefert eine rhetorische Breitseite nach der anderen. Zuletzt ließ er die Alarmglocken läuten, als er die baltischen Staaten beschuldigte, „Russen über die Grenze zu werfen“ – ein Vorwurf, der an seine früheren Kriegsvorwände erinnert.

Ideologische Ansätze in der Außenpolitik rücken immer näher an die Schaltstellen der Macht.

 

Konkurrierende Ansätze gegenüber Europa

In früheren Zeiten haben sich US-Präsidenten solchen Situationen gestellt und ernsthafte Herausforderungen für die globale Stabilität abgewehrt. Doch nach zwei Jahrzehnten enttäuschend verlaufener Militäraktionen im Irak, in Syrien, Libyen und Afghanistan sowie unbefriedigenden Einsätzen in Niger, Jemen, Somalia und anderswo hat die US-amerikanische Öffentlichkeit weniger Vertrauen in die Möglichkeiten der Vereinigten Staaten, im Ausland etwas Wesentliches zu erreichen. Diese Fehlschläge haben zu einer echten Skepsis gegenüber den US-amerikanischen Außenpolitikern und ihrer Fähigkeit geführt, die internationale Ordnung zu wahren.

Gleichzeitig haben sie den Weg für alternative Ideen geebnet, die lange Zeit in Misskredit geraten waren. In den vergangenen Jahren war eine Zunahme unterschiedlicher Ansätze mit Blick auf Europa und die Welt zu beobachten, von denen viele derzeit in Washington um Einfluss ringen. Das Aufkommen dieser Ideen kann sowohl als Folge wie auch als weiterer Verstärker des Verfalls der internationalen Ordnung angesehen werden.

Und es hat dazu geführt, dass diejenigen, die offen ideologische Ansätze in der Außenpolitik vertreten, näher an die Schaltstellen der Macht heranrücken konnten. Heute konkurrieren Neo-Isolationisten und traditionelle Falken um die Seele der Republikanischen Partei, während linke Progressive die moderaten Demokraten herausfordern und um die Macht kämpfen. Der verstorbene Charles Krauthammer hat es so ausgedrückt: Weder der isolationistische Glaube, dass Amerika zu gut für die Welt sei, noch die progressive Auffassung, dass die Welt zu gut für Amerika sei, eigneten sich für eine robuste US-amerikanische Außenpolitik, die das nationale Interesse verteidige. Dennoch haben beide Sichtweisen heute mehr Einfluss als zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die US-amerikanische Führung heute mit Veränderungen in der internationalen Ordnung auseinandersetzen muss, die über den russischen Revanchismus hinausgehen. Die Entscheidung von Präsident Xi Jinping, sich von Deng Xiaopings Leitstrategie „Verstecke deine Stärke und warte ab“ zu verabschieden, bevor China die Vereinigten Staaten verdrängen konnte, könnte als der größte geopolitische Fehltritt unserer Zeit in die Geschichte eingehen. Mit der Abschaffung der Freiheitsrechte in Hongkong, der Vertuschung der von China ausgegangenen Coronapandemie, ihrem aggressiven Vorgehen im Südchinesischen Meer, den Zöllen und Sanktionen gegen die Verbündeten der USA und der militärischen Bedrohung Taiwans hat die chinesische Führung das US-amerikanische Volk für die Gefahren sensibilisiert, die von der Kommunistischen Partei Chinas ausgehen.

 

Russland und/oder China?

Dieses neue Bewusstsein hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie die US-Amerikaner Europa sehen. Während die Isolationisten in den USA ein umfassendes Engagement im Ausland grundsätzlich ablehnen, hat eine neue Generation von sogenannten Priorisierern die Bühne betreten, die die Bedrohung durch China in den Vordergrund stellen und argumentieren, dass sich die USA von Europa nach Asien umorientieren sollten. Diese Priorisierer vertreten zwar die Auffassung, dass die USA ihr Abschreckungspotenzial auch in Zukunft zugunsten ihrer NATO-Partner einsetzen sollten. Sie sind jedoch gleichzeitig der Meinung, dass die USA Europa auffordern sollten, die Hauptlast bei der Unterstützung der Ukraine und der Abschreckung Russlands zu tragen.

Die militärische Unterstützung Russlands durch Nordkorea und den Iran verstärkte das Bild vom
antiamerikanischen Block.

Sowohl die Isolationisten als auch die Priorisierer befinden sich in einem erbitterten Streit mit den traditionellen Falken und den klassischen Liberalen, nach deren Auffassung die von Russland und China ausgehenden Herausforderungen miteinander zusammenhängen und Teil derselben Problematik sind. Die einstige Hoffnung der USA, China und Russland voneinander zu trennen, ist nach Ansicht dieser Konservativen und Liberalen nun einer stillschweigenden Anerkennung der chinesisch-russischen Annäherung gewichen. Sie sind der Meinung, dass die einzige Antwort auf diese Bedrohung ein umfassender Plan ist, mit dem man beiden Herausforderern begegnen kann.

Die Biden-Administration ist zu häufig dem Hang erlegen, einzelne Themen und Krisen getrennt voneinander zu betrachten, um auch mit Russland und China bei manchen Fragen Wege der Zusammenarbeit zu finden. Allerdings hat das Team um Biden auch erkannt, dass sich die Anzeichen für einen neuen, feindseligen Block häufen, wenngleich bislang zu wenig unternommen wurde, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Die Bemerkungen von Xi an Putin in Moskau im vergangenen Jahr, wonach sie „Veränderungen erleben, wie wir sie seit 100 Jahren nicht mehr gesehen haben, und wir diejenigen sind, die diese Veränderungen gemeinsam vorantreiben“, wurden in den Vereinigten Staaten breit diskutiert und allgemein als ein weiterer Ausdruck der Allianz zwischen den einstigen Rivalen interpretiert. Die militärische Unterstützung Russlands durch Nordkorea und den Iran hat den Eindruck eines antiamerikanischen revisionistischen Blocks, der sich nicht mehr in seine Einzelteile zerlegen lässt, nur noch verstärkt.

Hinsichtlich der Lastenteilung innerhalb der NATO besteht in den USA Einigkeit zwischen den Parteien.

 

Lastenteilung wird ein Thema bleiben

Natürlich verändert sich auch die NATO. Mit den Beitritten Finnlands und Schwedens zum Bündnis hat sich die Situation in Bezug auf Russland geändert, und viele von dessen Annahmen aus der Vorkriegszeit wurden widerlegt. Die baltischen Staaten sind zwar weiterhin verwundbar für Angriffe, insbesondere jetzt, wo Belarus praktisch ein Anhängsel Russlands wird. Aber die Fähigkeit der NATO, diese Länder zu verteidigen und die Exklave Kaliningrad unter Druck zu setzen, verbessert sich mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens zum Bündnis erheblich. Als der US-Senat über die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands abstimmte, fiel die Abstimmung mit 95:1 Stimmen zugunsten der Ratifizierung aus. Dies relativiert die überzogene Annahme, dass Washington sich immer mehr nach innen wende.

Auch hinsichtlich der Bedeutung der Lastenteilung innerhalb der NATO besteht in den USA Einigkeit zwischen den Parteien. Seit dem umfassenden Einmarsch Russlands in die Ukraine haben zwei NATO-Gipfel stattgefunden. In Madrid verabschiedete das Bündnis ein neues Strategisches Konzept, in Vilnius wurden neue regionale Militärstrategien beschlossen. Zukünftig wird sich Washington darauf konzentrieren, diese politischen und militärischen Entscheidungen umzusetzen und die von ihnen ausgehende Dynamik aufrechtzuerhalten.

Positiv kommt dabei zum Tragen, dass Europa in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht hat. Dies wird inzwischen sogar von Republikanern anerkannt, die Europa eher skeptisch gegenüberstehen. Europa hat im Jahr 2022 fast sechs Prozent mehr für die Verteidigung ausgegeben als im Jahr zuvor, wobei die Staaten an der Ostflanke den größten Anteil daran haben. Fast alle NATO-Staaten erhöhen ihre Verteidigungsausgaben und Europa hat nach jetzigem Stand mehr als doppelt so viel Unterstützungsleistungen an die Ukraine vorzuweisen wie die USA.

Die Europäer haben jedoch weiterhin große Defizite bei den Luft- und Seestreitkräften, der Munition und anderen wichtigen Faktoren. Unterdessen hat Putin die russische Wirtschaft auf Kriegsmodus gestellt und die Verteidigungsausgaben auf sechs Prozent des BIP gesteigert. Ganz gleich, wer im nächsten Jahr im Weißen Haus sitzen wird: Die USA werden sich darauf konzentrieren, aus Zusagen Verpflichtungen zu machen und aus Verpflichtungen tatsächliche Fähigkeiten. Es wird aus den USA also anhaltenden Druck von höchster Ebene auf die europäischen Verbündeten geben, damit diese mindestens ihren Versprechen vom NATO-Gipfel in Wales 2014 nachkommen.

Ebenso wird derjenige, den die US-amerikanischen Bürger im kommenden November ins Oval Office wählen werden, die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen müssen. Dieser Krieg verändert die Vorstellung der Welt von moderner Kriegsführung. Schließlich wird unsere Vorstellung davon, was dort möglich ist und was nicht, gerade angesichts des ukrainischen Erfindungsreichtums und einer Vielzahl neuartiger und bahnbrechender Technologien wie FPV-Drohnen auf den Prüfstand gestellt. Und trotz all dieser Veränderungen ist die größte Frage, die sich dem nächsten US-Präsidenten stellt, vielleicht nicht, welche Lehren er aus dem Krieg ziehen, sondern wie er mit der Ukraine insgesamt umgehen soll.

 

Umgang mit der Ukraine: Aufnehmen oder auf Abstand halten?

Auf der einen Seite des Spektrums steht Präsident Biden, der die Ukraine aus dem Schutzbereich der NATO heraushalten will, um zu verhindern, dass die sonst entstehenden Bündnisverpflichtungen in einen offenen Krieg mit Russland führen, den seine Regierung nicht will. Er hat immer wieder deutlich gemacht, dass Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, wonach jeder Bündnispartner verpflichtet ist, im Falle eines Angriffs die für notwendig erachteten Maßnahmen zu ergreifen, für ihn eine Verpflichtung zum Krieg gegen den Angreifer bedeutet. Alles andere, so befürchtet Biden, könnte Russland dazu verleiten, die NATO anzugreifen.

Es wäre enorm teuer, die Ukraine militärisch auf Augenhöhe mit Russland zu bringen.

Daraus hat Putin den Schluss gezogen, dass Angriffe auf einen NATO-Staat zwar eine Reaktion nach sich ziehen, militärische Maßnahmen gegen Staaten außerhalb des Bündnisses aber durchaus möglich sind. Vor diesem Hintergrund ist klar, warum Putin Truppen in Georgien, der Ukraine und Moldau stationiert oder Gewalt gegen diese Staaten angewandt hat, und zwar mit katastrophalen Folgen für den Westen, während er gleichzeitig bislang gezögert hat, gegen die baltischen Staaten vorzugehen.

Einige Kritiker der Biden-Administration argumentieren, dass deren Vorgehen in Bezug auf die Ukraine daran kranke, dass sie Krieg als altmodischen Lichtschalter betrachte, der nur ein- oder ausgeschaltet werden könne – und nicht als Dimmschalter mit unterschiedlichen Hell- und Dunkelstufen. Analysten wie der ehemalige US-Botschafter bei der NATO, Kurt Volker, argumentieren, dass der Wettbewerb zwischen den USA und Russland besser als ein Kontinuum offensiver und defensiver Maßnahmen zu verstehen sei: Eine Luftverteidigungsmission der NATO über ukrainischen Großstädten oder eine Minenräumungskampagne im Schwarzen Meer seien etwas völlig anderes, als Kampftruppen in die Russische Föderation zu entsenden, so Volker. Anstatt den Beitritt der Ukraine zu verzögern, würden einige dieser Kritiker die Ukraine sogar am liebsten schon jetzt in die NATO aufnehmen und alle Zweifel am Engagement des Westens für das Überleben der Ukraine ausräumen. Natürlich birgt die sofortige Aufnahme der Ukraine das Risiko, dass der US-Präsident gezwungen sein könnte, zwischen einer Verwässerung von Artikel 5 und dem Risiko einer Eskalation des Konflikts mit Russland zu wählen.

Das eigentliche Ringen in der Washingtoner Debatte über die Zukunft Europas findet zwischen diesen beiden Polen statt: Die Ukraine auf Distanz halten oder sie voll und ganz in den Westen integrieren? Eine wiedergewählte Biden-Regierung könnte sich für eine Spielart des Ersten entscheiden, die sogenannte Israel-Option. Washington würde Kyjiw zwar sicherheitspolitische Unterstützung gewähren, aber nur lockere Sicherheitsgarantien abgeben, die eine NATO-Mitgliedschaft in weite Ferne rücken ließen. Die Risiken eines solchen Ansatzes sind offensichtlich, wie der Analyst Peter Feaver aufzeigt: Israel verfügt nicht nur über Atomwaffen, sondern die USA verschaffen dem Land auch einen qualitativen militärischen Vorteil gegenüber den anderen Staaten in der Region. Eine atomar bewaffnete Ukraine läge nicht im Interesse der Vereinigten Staaten und es wäre enorm teuer, das Land ausreichend auszustatten, um es militärisch auf Augenhöhe mit Russland zu bringen. Wahrscheinlich müsste der Westen die Ukraine auch mit Waffen ausstatten, die tief in die Russische Föderation eindringen könnten, was den Dimmschalter weiter hochdrehen würde als je zuvor.

Und die lockeren Sicherheitsgarantien? Nach den potemkinschen Verpflichtungen des Budapester Memorandums kann man es Kyjiw nicht verdenken, wenn es skeptisch ist gegenüber solchen Versprechen. Die Ukraine würde eine felsenfeste bilaterale Sicherheitsgarantie der USA sicherlich begrüßen. Aber eine solche Garantie würde die US-amerikanischen Bemühungen, die europäische Sicherheitsverantwortung mit den europäischen Verbündeten zu teilen, zunichtemachen. Die zweite Option, nämlich die vollständige und sofortige Einbeziehung der Ukraine in die Sicherheitsgarantien der NATO, nennen wir sie die baltische Option, birgt das Risiko ungewollter Nebeneffekte, wenn sie mit einer minimalistischen Auslegung des Artikels 5 einhergeht: Anstatt einen Konflikt zu verhindern, könnte eine solche Haltung Putin dazu verleiten, sein Glück zu versuchen.

Damit bleibt eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nach Beendigung des Krieges als das von US-Analysten am häufigsten diskutierte mögliche Ergebnis übrig. Die Ukraine hat in den vergangenen zwei Jahren sowohl ihren Unterstützern als auch ihren Skeptikern bewiesen, dass sie eine militärische Verstärkung für das Bündnis wäre, und sie wird aus dem Krieg mit dem kampferprobtesten Militär hervorgehen, das es in Europa seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert gegeben hat. Für die NATO wäre sie ein enormer Gewinn. Wenn das Bündnis beschließt, eine Einladung an Kyjiw auszusprechen, sofern die Sicherheitsbedingungen dies zulassen, wäre dies ein deutliches Signal an den Kreml, dass der Westen sich für eine lebensfähige Ukraine einsetzt und bereit ist, sie auf unbestimmte Zeit und mit höherem Engagement zu unterstützen, ganz gleich, welche Absichten Putin hat.

Selbst wenn Putin versuchen sollte, einem solchen Szenario zuvorzukommen, indem er den Kampf so lange fortsetzt, bis die russischen Gefängnisse keine Rekruten mehr hergeben, ist es unwahrscheinlich, dass er das heutige Einsatztempo auf Dauer aufrechterhalten kann. Wenn der Westen der Ukraine die Waffen und die Unterstützung gibt, die sie braucht, könnte sie diesen Krieg sehr wohl gewinnen und sich damit ihren realistischsten Weg zur NATO-Mitgliedschaft ebnen. Aber selbst wenn die Ukraine nicht alle ihre Gebiete zurückerobert und sich für Friedensgespräche mit Russland entscheidet, könnte der Sicherheitsschirm der NATO nach einer weitgehenden Beendigung der Kampfhandlungen auf die von den ukrainischen Streitkräften kontrollierten Gebiete ausgedehnt werden, wobei das Bündnis Kyjiw die Zusage abringen könnte, als Bedingung für die Mitgliedschaft auf die Anwendung von Gewalt gegen die besetzten Gebiete zu verzichten. Damit würde ein Konzept, das ursprünglich für Georgien vorgeschlagen wurde, auf die Ukraine angewandt.

Was es in diesem Zusammenhang bedeuten würde, wenn ein Republikaner ins Weiße Haus gewählt wird, ist ungewiss. Der ehemalige Präsident und derzeitige Favorit auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur Donald Trump pendelt immer wieder zwischen aggressivem Internationalismus und modernem Isolationismus. Im Laufe der Zeit hat er im Grunde schon jede der Denkschulen vertreten, die heute in der Partei um die Vorherrschaft ringen. Wie er im Falle seiner Wahl zur Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO stehen würde, ist schwer vorherzusagen, wenngleich seine jüngsten Äußerungen auf eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Krieg und den Erfolgsaussichten der Ukraine schließen lassen.

Ungeachtet der Frage, wer Präsident wird, wird es die Aufgabe der nächsten US-Regierung sein, die verschiedenen Kräfte in ihrem jeweiligen Lager zu vereinen und Putin zu beweisen, dass er in der Ukraine nicht gewinnen kann. Gelingt ihr das nicht, wird es möglicherweise keine Einladungen zur Hundertjahrfeier der NATO geben.

– übersetzt aus dem Englischen –

 


 

Peter Rough (Fletcher School of Law and Diplomacy, MALD) ist Senior Fellow und Leiter des Center on Europe and Eurasia am Hudson Institute.


 

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