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Cüneyt Karadağ, Anadolu Agency, picture alliance

Auslandsinformationen

Tun wir genug?

von Christina Bellmann, Alexander Schuster

Der deutsche und europäische Beitrag zur ­­NATO

2024 hat das Potenzial, als Schicksalsjahr für die europäische Verteidigung in die Geschichte einzugehen. Die Wahl zum 47. US-Präsidenten kann die Zukunft der NATO maßgeblich verändern. Deutschland und die Europäer sind ihrem Schicksal allerdings nicht ohne Handlungsoptionen ausgeliefert. Was sollte jetzt konkret getan werden?

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Die 75-jährige Allianz vor einer Weggabelung

Die NATO sieht sich im 75. Jahr ihres Bestehens großen Aufgaben gegenüber. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine bedroht Russland die europäische Sicherheitsordnung in überwunden geglaubter revisionistischer Weise. Die Verteidigungsallianz ist zu ihrem Kernauftrag zurückgekehrt: Abschreckung und Verteidigung des Bündnisgebiets gegen einen staatlichen Aggressor. Dies hat zu einem grundlegenden Umdenken in der deutschen Verteidigungspolitik geführt, das sich in neuen Strategiedokumenten niederschlägt und in einer umfangreichen Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angreifer.

Die Fortsetzung dieser militärischen, finanziellen und humanitären Unterstützung stellt die transatlantischen Partner im dritten Jahr dieses völkerrechtswidrigen Angriffskriegs zunehmend vor Herausforderungen. Die wachsende Bedrohung durch ein nuklear und konventionell hochrüstendes China wird von den USA als noch größere Gefahr wahrgenommen als das kriegführende Russland. Die US-Präsidentschaftswahl Ende des Jahres und die Möglichkeit eines isolationistisch denkenden Präsidenten schweben deshalb wie ein Damoklesschwert über der Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur.

In seinem Beitrag in dieser Ausgabe der Auslandsinformationen schildert Peter Rough die innenpolitische Diskussion des US-amerikanischen NATO-Engagements und die möglichen Folgen einer demokratischen oder einer republikanischen Präsidentschaft. Angesichts möglicher Änderungen in der US-amerikanischen Transatlantik-Politik stellt sich die Frage: Was müssen Deutsche und Europäer tun, um die USA in der NATO zu halten? Und inwieweit schlägt sich das grundsätzliche Umdenken tatsächlich in konsequentem sicherheitspolitischem Handeln nieder?

 

Der US-amerikanische Beitrag zur europäischen Sicherheit

Mit dem Ende des Kalten Krieges schrumpften die Armeen der einzelnen NATO-Länder als Teil der Friedensdividende teilweise drastisch. Ebenso nahm die Zahl der in Europa stationierten US-Truppen ab, die seit dem Zweiten Weltkrieg in wechselnder Stärke dauerhaft auf dem europäischen Kontinent präsent waren: 2018 erreichte diese Zahl einen Tiefpunkt mit rund 65.000 Soldatinnen und Soldaten. Zu Spitzenzeiten im Jahr 1957 waren es 450.000.

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Aktivierung der NATO-Verteidigungspläne wurde 2022 erstmals wieder die Marke von 100.000 US-amerikanischen Soldatinnen und Soldaten auf europäischem Boden überschritten. Die größten Kontingente US-amerikanischer Militärpräsenz befinden sich in Deutschland, Italien, dem Vereinigten Königreich und Polen. Für die polnische Sicherheitspolitik spielen die USA in ihrer Funktion als eFP-Rahmennation eines multinationalen Kampfverbands seit 2017 eine besondere Rolle.

Nicht nur Polen, sondern alle Staaten der NATO-Ostflanke erhielten US-Truppenverstärkungen. Der Befehlshaber des US-Europakommandos und gleichzeitige Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) der NATO, General Christopher G. Cavoli, begründete diesen Schritt mit der notwendigen Abschreckung russischer Aggressionen. Im an Estland, Lettland und die Ukraine grenzenden westlichen Militärbezirk Russlands hätten die Bodentruppen Moskaus weiterhin einen Vorteil gegenüber den regionalen Streitkräften und den NATO-Streitkräften an der Ostflanke. Gerade den baltischen Staaten mangelt es an strategischer Tiefe zur Verteidigung, weshalb im Falle eines russischen Angriffs nahezu keine Zeit bliebe, um auf NATO-Verstärkung zu warten.

Zum Vergleich wird hier häufig auf das aktuell von Russland besetzte Gebiet der Ukraine verwiesen – das Baltikum ist insgesamt so breit wie die aktuell umkämpften Bezirke. Die NATO passte deshalb ihre Verteidigungsstrategie bereits nach 2016 entsprechend an und sichert die Ostflanke seitdem durch eine verstärkte Präsenz in der Region. Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Rüstungsindustrie produziert in Folge wesentlich mehr Munition, als die westlichen Unterstützer der Ukraine liefern können. Innerhalb der NATO geht man davon aus, dass das Land in fünf bis acht Jahren in der Lage wäre, einen Angriff auf ein Mitgliedsland zu verüben – das Baltikum gilt als einer der wahrscheinlichsten Angriffspunkte.

Konsens herrscht in der Einschätzung, dass die Europäer endlich für ihre eigene Sicherheit zu sorgen hätten.

Die USA sind über die konventionelle Abschreckung hinaus durch die Bereitstellung von Nuklearwaffen Sicherheitsgarant gegenüber Russland. Diese und weitere zentrale militärische Fähigkeiten gewährleisten aktuell die Sicherheit der europäischen NATO-Staaten.

 

Verringerung des US-Engagements in Europa?

Zur künftigen US-amerikanischen Truppenpräsenz und zum US-amerikanischen Einsatz im Rahmen der NATO gibt es zu Beginn des Jahres 2024 verschiedenste Einschätzungen. Einig sind sich die sicherheitspolitischen Experten, dass eine Wahl Donald Trumps für das US-amerikanische NATO-Engagement nichts Gutes verheißen würde. Bereits in seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 äußerte sich Trump skeptisch bis abfällig angesichts europäischen Trittbrettfahrens im Verteidigungsbereich zulasten der Vereinigten Staaten und drohte mehrmals mit einem Austritt der USA aus der NATO, sollten die Verbündeten nicht zeitnah das vereinbarte Ziel von zwei Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben erreichen.

Neben einem kompletten Austritt aus der NATO hat beispielsweise das Konzept der dormant NATO, einer schlafenden NATO, große Aufmerksamkeit erregt. Sumantra Maitra, ein britischer Forscher und aktuell Redakteur des Magazins The American Conservative, beschreibt dies in einem Beitrag für das Center for Renewing America wie folgt: Die USA sollten sich primär auf die internationale Freiheit von See- und Handelswegen konzentrieren und die Präsenz von Luftwaffe und Marine in Europa auf ein Minimum reduzieren. Die NATO-Erweiterung müsse beendet und sämtliche Aktivitäten, die nicht in den streng militärischen Bereich fielen, ausgesetzt werden. Dieser Vorschlag sieht ebenfalls einen substanziellen Abzug militärischen Personals aus den NATO-Strukturen vor.

Andere Kommentatoren halten eine moderatere Verringerung des oben beschriebenen US-Engagements für möglich: bei der finanziellen und militärischen Ukraine-Unterstützung, den Krisenreaktionskapazitäten für Europa und in angrenzenden Regionen (Naher Osten, Afrika), den Verpflichtungen gegenüber den Staaten der NATO-Ostflanke oder bei Ausbildung und Übungen mit NATO-Verbündeten. Konsens herrscht darin, dass China mittel- und langfristig die größere Bedrohung für die USA sein werde, weshalb es die US-Kräfte entsprechend einzuteilen gelte und die Europäer endlich für ihre eigene Sicherheit zu sorgen hätten.

Interessant ist vor diesem Hintergrund ein Mitte November 2023 erschienener Bericht zur nuklearen strategischen Ausrichtung der USA, wonach China sein Atomwaffenarsenal in einem beispiellosen und sehr überraschenden Tempo aufgestockt habe. Die Vereinigten Staaten müssten sich bis 2030 auf das Bedrohungsszenario einer tripolaren nuklearen Weltordnung (USA, China, Russland) einstellen, worauf man aktuell schlecht vorbereitet sei. Der Bericht warnt explizit davor, sich aus bestehenden Sicherheitsallianzen zurückzuziehen, weil dies Gegnern direkt zugutekäme und die Sicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand sowohl der USA als auch ihrer Partner in Gefahr bringen könnte. Ob diese Warnung Gehör findet, bleibt abzuwarten.

 

Kosten-Nutzen-Analyse eines Abzugs aus Europa

Ein Blick auf die in Europa stationierten Truppenverbände zeigt, dass ein kurzfristiger Abzug die Sicherheit im Indopazifik kaum erhöhen würde. Die in Europa vorhandene leichte Infanterie und die gepanzerten Verbände wären in einem Konflikt mit China nur von geringem Nutzen. Die Hauptlast in einem angenommenen Konfliktszenario mit China käme der US Navy und der US Air Force zu.

Nicht von der Hand zu weisen ist dagegen das Argument der Befürworter eines pivot away from Europe, wonach die im Indopazifik benötigten Fähigkeiten Kosten in der Entwicklung verursachen und finanzielle Ressourcen längerfristig durch einen Rückzug aus Europa eingespart werden könnten.

Dazu kommt, dass einige Waffensysteme in beiden Regionen benötigt werden und es hier zu Engpässen in der Produktion kommt. Während die bisherigen Waffenlieferungen an die Ukraine größtenteils aus US-Lagerbeständen stammten, hängt die künftige Beschaffung von der Fähigkeit der US-Waffenhersteller ab, Aufträge zügig auszuliefern. Insbesondere die Luftwaffe könnte durch die steigende Nachfrage in beiden Regionen nach Luftbetankung und Transport sowie nach Nachrichten-, Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten überfordert sein. Langfristig würde dies asiatische und europäische Bedürfnisse in Konflikt miteinander bringen.

Deutschland hat mit der Beschaffung von F-35-Kampfjets die nukleare Teilhabe sichergestellt.

 

Aufgaben für Deutschland und Europa

Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl 2016, die Donald Trump überraschend und entgegen den meisten Vorhersagen gewann, hat viele Politauguren mit Prognosen vorsichtig werden lassen. Das Rennen sei noch offen, Umfrageergebnisse seien Momentaufnahmen. Genauso wenig lässt sich in dieser komplexen geopolitischen Lage vorhersagen, welche Außenpolitik mit Blick auf Europa ein republikanischer Präsident verfolgen wird, was teils im Konzept der strategischen Ambiguität begründet liegt. Das heißt nicht, dass Deutschland und Europa nichts für ihre eigene Sicherheit tun könnten, das sich vielleicht positiv auf die künftigen transatlantischen Beziehungen auswirkt. Denn die Erwartung, dass Europa mehr für seine eigene Sicherheit tun muss, ist überparteilich immer wieder klar von US-amerikanischer Seite kommuniziert worden. Letztlich wird die US-Innenpolitik den größten Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen haben – selbst bei einem Präsidenten, der weniger isolationistisch agiert als Donald Trump.

Deutschland hat mit der Entscheidung vom März 2023 für den Kauf von 35 US-amerikanischen F‑35 als Nachfolge für die veralteten Tornado-Kampfjets die nukleare Teilhabe sichergestellt. Laut Torben Arnold von der Stiftung Wissenschaft und Politik wird so „Anschluss an den fortgeschrittensten Stand der Fähigkeiten im NATO-Bündnis hergestellt“ und damit die Beziehung zu den USA gestärkt. Dies gilt besonders, sollte künftig von den USA ein Fokus auf nukleare Abschreckung Chinas und Russlands gelegt werden. Gleichzeitig sind Bedenken der europäischen Vertragspartner des Projekts Future Combat Air System (FCAS) – Frankreich und Spanien – zu zerstreuen, dass der Kauf der F-35 finanzielle Mittel von der Entwicklung der Flugzeugkomponente des Luftabwehrsystems FCAS abzieht. Da die Frage nach dem Trägersystem französischer Nuklearwaffen in Verbindung mit FCAS noch nicht gelöst ist (geschweige denn einer möglichen deutschen Teilhabe an französischen Nuklearfähigkeiten) und eine Zertifizierung von Flugzeugen für sowohl US-amerikanische als auch französische Atomwaffen noch ungewisser erscheint, ist diese lange aufgeschobene Entscheidung zur Stärkung der NATO-Einbettung aus deutscher Sicht zu begrüßen.

Der Bundesrepublik fehlt nach wie vor eine breite strategische Debatte, wie beispielsweise in den angelsächsischen Nationen. Es gilt, bisher isoliert behandelte Themenbereiche der sicherheits- und verteidigungspolitischen Debatte in Deutschland zu verknüpfen. Dem Land kommt aufgrund der geografischen Lage, der volkswirtschaftlichen Stärke sowie der Bevölkerungszahl eine herausgehobene Rolle bei der Sicherheit Europas zu. Die Entscheidung für den Kauf einzelner moderner Waffensysteme, um seit Jahren bestehende Fähigkeitslücken der Bundeswehr zu schließen, ist daher nur ein Baustein für einen substanziellen deutschen Beitrag zur Sicherheit Europas. Priorität muss daher die nachhaltige Finanzierung der Streitkräfte haben.

 

Bundeswehr: Finanz- und Personalnot angehen

Berlin hat bereits 2014 gegenüber den NATO-Verbündeten versprochen, das Zwei-Prozent-Ziel ab 2024 zu erfüllen. Angesichts der Sicherheitslage ist das eher Mindestanforderung als Zielmarke. Derzeit ist die Bundesrepublik jedoch noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Im Gegenteil: Das Verteidigungsbudget wird laut Planung der Bundesregierung bis 2027 konstant sinken. Nur mithilfe des Sondervermögens der Bundeswehr wird die gesetzte Marke von zwei Prozent vorübergehend erreicht. Das Haushaltproblem wird jedoch nur unzureichend in der politischen Debatte reflektiert: Mit Auslaufen des Sondervermögens wird eine dauerhafte Finanzierungslücke im Einzelplan 14 des Bundeshaushalts von circa 40 Milliarden Euro zum Ausgabenziel von zwei Prozent entstehen.

Das Sondervermögen verschlechtert die reguläre Haushaltslage der Bundeswehr sogar.

Zur Lösung dieser Haushaltsmisere wird aus verschiedenen politischen Lagern die erneute Aussetzung der Schuldenbremse gefordert. Damit könnte die Bundesregierung gezielt neue Schulden aufnehmen, um den Wehretat substanziell zu erhöhen. Dieses Mittel wäre jedoch mit größter Vorsicht zu behandeln: Der Haushaltsspielraum für die Bundesregierung nimmt in den nächsten Jahren stark ab. Gleichzeitig werden die Ausgaben für soziale Sicherung ansteigen. Zudem muss bedacht werden, dass ab 2028 die ersten Tilgungsbeträge für die Krisenkredite aus den Jahren 2020 bis 2022 bezahlt werden müssen. Zusätzliche Schulden würden den Gesamthaushalt mittel- und langfristig stark belasten.

Ähnlich verhält es sich mit der Einführung des Sondervermögens für die Bundeswehr: Das Sondervermögen, eigentlich ein Kreditrahmen, ist dazu gedacht, die dringendsten Neuanschaffungen für die Bundeswehr schnell auf den Weg zu bringen. Der gordische Knoten der Unterfinanzierung der Bundeswehr kann damit jedoch nicht gelöst werden – im Gegenteil: Das Sondervermögen verschlechtert die reguläre Haushaltslage der Streitkräfte sogar. Die erwähnte Beschaffung der F-35 ist militärisch absolut notwendig, um weiterhin die Pflichten innerhalb der nuklearen Teilhabe der NATO erfüllen zu können. Die Beschaffung der Kampfflugzeuge aus dem Sondervermögen wird jedoch den regulären Wehretat stark belasten, da die enormen Kosten für Wartung und Unterbringung des neuen Geräts aus dem Einzelplan 14 des Bundeshaushalts bestritten werden müssen. Wenn der reguläre Verteidigungshaushalt nicht entschieden aufgestockt wird, werden die Beschaffungen aus dem Sondervermögen mittelfristig eher zur Be- als zu Entlastung der Streitkräfte beitragen.

Die Bundeswehr sucht händeringend nach Möglichkeiten, mehr Rekruten für den Dienst an der Waffe zu interessieren.

Die mangelnde Budgetierung der Bundeswehr bleibt daher das größte Problem für einen substanziellen Beitrag Deutschlands zur Sicherheit Europas. In Deutschland muss somit dringend die politische Debatte geführt werden, wie der reguläre Verteidigungshaushalt erheblich aufgestockt werden kann, um die Mindestmarke von zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Angesichts der voraussichtlich schwierigen Lage im Bundeshaushalt in den nächsten Jahren führt an einer Priorisierung der Verteidigungsausgaben zulasten anderer Ressorts kein Weg vorbei.

Neben der wachsenden Finanzierungslücke im Einzelplan 14 des Bundeshaushalts gibt noch ein weiteres Thema Anlass zu Kopfzerbrechen: die Lücke im Personalbestand der Bundeswehr. Derzeit beläuft sich das Delta zwischen der Soll- und Iststärke auf rund 20.000 Soldaten. Die Bundeswehr sucht bereits seit Jahren händeringend nach Möglichkeiten, mehr Rekruten für den Dienst an der Waffe zu interessieren. Die derzeit an Fahrt aufnehmende Debatte über die Möglichkeiten der Rekrutierung und Integration von Ausländern in die Bundeswehr illustriert den Bedarf der Streitkräfte, schnell neue Wege zu finden, um den Personalnotstand zu beheben.

Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass die Personalplanung, die eine Sollstärke der Bundeswehr von circa 200.000 Soldaten vorgibt, aus Zeiten stammt, als das Haupteinsatzszenario Einsätze aus dem Bereich des internationalen Krisenmanagements vorsah. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bereitet sich die NATO (und damit auch die Bundeswehr) hauptsächlich auf Landes- und Bündnisverteidigung vor. Für einen erfolgreichen Einsatz im hochintensiven Gefecht reichen diese Personalplanungen bei Weitem nicht aus.

 

Es geht nicht nur um materielle Ressourcen

Deutschland ist jedoch nicht nur finanziell gefordert, seinen Beitrag zur Sicherheit Europas in der NATO zu leisten. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 fühlen sich die osteuropäischen NATO-Verbündeten von Moskau direkt bedroht. Dem aggressiven Verhalten Russlands muss durch die Verstärkung der Glaubwürdigkeit des Schutzversprechens für alle NATO-Verbündeten begegnet werden. Daher ist die Entscheidung zur permanenten Stationierung einer schweren Kampfbrigade der Bundeswehr in Litauen sehr zu begrüßen. Sie ist das richtige Signal, um den Sicherheitsbedenken unserer baltischen Verbündeten zu begegnen und den deutschen Willen zu untermauern, mehr direkte Verantwortung für die Sicherheit Europas im Rahmen der NATO zu übernehmen. Gleichzeitig stellt die Stationierung der Brigade die Bundeswehr angesichts großer Engpässe bei Personal und Material vor zahlreiche Herausforderungen. Nichtsdestotrotz zeigt Berlin damit klar, dass es zu einer faireren Lastenteilung innerhalb der NATO, vor allem gegenüber den Vereinigten Staaten, bereit ist.

Die Bedrohung durch Russland ist in Deutschland kaum angekommen.

Deutschland ist zudem als Rahmennation innerhalb der NATO gefordert: als Anlehnungspartner für kleinere europäische Verbündete. Für die Bundesrepublik muss es daher das Ziel sein, die Bundeswehr zum Rückgrat der konventionellen Verteidigung in Europa werden zu lassen. Das Ziel ist sehr ambitioniert angesichts der prekären Haushaltslage der deutschen Streitkräfte und der bisher eher halbherzigen Bemühungen, die Lücken wieder aufzufüllen, die durch die Weitergabe von Waffen und Munition an die Ukraine entstanden sind. Außerdem schickt sich derzeit Warschau an, durch die angekündigten enormen Aufrüstungsmaßnahmen diese Rolle mittelfristig auszufüllen. Deutschland muss daher im Schulterschluss mit Polen und den anderen Verbündeten in Europa eine kluge, sich ergänzende Fähigkeitsplanung forcieren, um zu einem klaren Zielbild zu kommen, das es braucht, um die Rolle als NATO-Rahmennation in Europa auszufüllen.

Für eine zielführende strategische Debatte dürfen aber nicht nur die bisher angerissenen Felder gesehen und verknüpft werden. Die Anstrengungen für unsere Sicherheit sind nicht nur auf den Bereich Bundeswehr beschränkt. Es muss auch die große Bedeutung der deutschen Infrastruktur gesehen werden. Deutschland dient in der NATO-Planung als Logistik-Drehscheibe. Überspitzt formuliert: Einer der wichtigsten Beiträge der Bundesrepublik zur Verteidigung Europas lastet auf den Schultern der Deutschen Bahn. Im Bündnisfall nach Artikel 5 wäre es eine zentrale Aufgabe Berlins, die anlandenden Truppen unserer Alliierten (vor allem der USA) von den Häfen Westeuropas in Richtung Osten zu transportieren. Der Transport würde nicht ausschließlich über das Schienennetz erfolgen, das deutsche Autobahnnetz wäre in ähnlichem Ausmaß gefordert wie die Gleise.

Glaubhafte Abschreckung gegenüber Moskau und anderen Aggressoren kann nur mit einer gesicherten Resilienz der zentralen Infrastruktur gelingen. Das bedeutet, dass in den kommenden Jahren allein aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus enorme Summen für den Ausbau und die Modernisierung von Bahnstrecken, Brücken und Straßen ausgegeben werden sollten. Nicht nur für die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Schienen- und Straßennetzes, sondern auch, um dringend benötigte Redundanzen im Netz zu schaffen, um im Konfliktfall nicht zu anfällig für Angriffe auf unsere Infrastruktur zu sein.

Damit der enorme nationale Kraftakt gelingen kann, braucht es für die erforderlichen Maßnahmen eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Voraussetzung für die Unterstützung in der Bevölkerung ist jedoch, dass die Dringlichkeit und Notwendigkeit dieser Schritte auch gesehen werden. Die Bedrohungswahrnehmung innerhalb der deutschen Bevölkerung ist hier der Schlüssel. Im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten im Norden und Osten Europas ist die unmittelbare Bedrohung durch Russland kaum in Deutschland angekommen. Neben einer sehr viel klareren Kommunikation seitens der Bundesregierung über die sicherheitspolitische Lage Europas wäre auch eine Abkehr von der passiven Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung notwendig. Seit Beginn des Angriffskriegs Moskaus gegen die Ukraine war es das Ziel der derzeitigen Bundesregierung, die Bevölkerung vor möglichst allen politischen und vor allem ökonomischen Folgen durch diverse Hilfspakete abzuschirmen. Dafür wird bald kein Geld mehr da sein und das ist auch nicht die Aufgabe vorausschauender und verantwortungsvoller Regierungsarbeit. Die Aufgabe ist vielmehr, die richtigen, wenn auch schmerzhaften Entscheidungen zu treffen, um die Weichen für eine prosperierende und vor allem sichere Zukunft Deutschlands und Europas zu stellen.

 

Europa in der NATO

Auf europäischer Ebene sind die Herausforderungen ähnlich groß. Um die europäische Säule innerhalb der NATO zu stärken, müssen die großen Lücken bei Ausrüstung und Munition in den europäischen Armeen schnell geschlossen werden. Der Schlüssel dazu ist eine gemeinschaftlich koordinierte Rüstungsplanung, um einen europäischen Kapazitätenaufbau zu ermöglichen. Die Rolle der EU liegt dabei vor allem in der Rüstungskoordination und Kooperation. Die einzelnen nationalen Haushalte der europäischen Verbündeten für Verteidigung, Forschung und Entwicklung werden nicht mehr ausreichen, um nationale Alleingänge bei der Rüstungsbeschaffung zu ermöglichen.

Nicht nur die Kosten für die Beschaffung neuer Waffensysteme werden in Zukunft weiter steigen, auch die Entwicklungszyklen im Bereich der Wehrtechnik werden immer kürzer. Das heißt, dass in immer kürzeren Abständen große Investitionen nötig sind, um wehrtechnisch auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Die europäischen NATO-Verbündeten können durch eine intensivierte Kooperation im Rüstungsbereich eine verbesserte Interoperabilität zwischen den Armeen des transatlantischen Bündnisses herstellen. Sie ist der Schlüssel zu einer glaubwürdigen Abschreckungsfähigkeit gegenüber Moskau und anderen Herausforderern. Zudem können durch eine verbesserte Interoperabilität der Streitkräfte innerhalb der NATO die Vereinigten Staaten erheblich entlastet werden.

Die drängendste Aufgabe auf europäischer Ebene ist die Nachbeschaffung des an die Ukraine abgegebenen Materials, vor allem die Aufstockung der zur Neige gehenden Munitionsbestände. Die EU hat mit den beiden Initiativen ASAP (Act in Support for Ammunition Production) und EDIRPA (European Defence Industry Reinforcement through Common Procurement Act) bereits wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. Die Europäische Friedensfazilität, mithilfe derer die Unterstützungslieferungen der europäischen Länder an die Ukraine refinanziert werden können, ist ebenfalls ein wichtiges und effektives Instrument. Erst durch diese Refinanzierung werden zahlreiche der Unterstützungsleistungen für die Ukraine überhaupt möglich.

Liefern müssen in erster Linie die europäischen Staaten, vor allem Deutschland.

Die Initiativen auf europäischer Ebene sind ein wertvoller Beitrag zu einer gerechteren Lastenteilung gegenüber den USA. Dennoch sollten die Programme und Initiativen finanziell erheblich stärker unterlegt werden. Trotz der enormen finanziellen Herausforderungen wird die Bereitstellung der Geldmittel die leichtere Aufgabe sein. Die politischen Kosten, um eine europaweit einheitliche Haltung angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu erreichen, werden um ein Vielfaches höher sein.

 

Fünf vor zwölf

Aus europäischer Perspektive muss klar sein, dass die USA sich künftig nicht mehr, sondern eher weniger für europäische Verteidigung im Kontext der NATO engagieren werden. Dies scheint ein realistisches Szenario unabhängig vom Ausgang der Wahl in den USA.

Aktuell lässt sich nicht vorhersagen, wie das US-NATO-Engagement durch einen künftigen Präsidenten genau angepasst würde und ob die Europäer darauf überhaupt Einfluss haben. Zumindest ein Austritt im Alleingang scheint durch eine entsprechende Gesetzesanpassung des US-Kongresses 2023 verhindert. Es spricht jedoch vieles dafür, dass die Europäer und auch Deutschland den seit einem Jahrzehnt gemachten Zusagen, mindestens zwei Prozent ihrer BIPs für Verteidigung auszugeben, Taten folgen lassen müssen. Das bedeutet, dass künftig die Lastenteilung in der Verteidigung des Kontinents substanziell und nachhaltig gewährleistet sein muss, was einen Anstieg der Verteidigungsbudgets aufseiten derjenigen Europäer bedeutet, die dies noch nicht leisten.

Liefern müssen in erster Linie die europäischen Nationalstaaten, muss vor allem Deutschland. Die gute Nachricht: Trotz der teils erheblichen Unterschiede in der Tonalität steht weder die französische Forderung nach größerer europäischer Souveränität noch die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ im Konflikt mit der US-amerikanischen Forderung nach größerer Lastenteilung. Der brutale russische Krieg gegen die Ukraine scheint im Gegenteil den Boden bereitet zu haben für eine neue transatlantische Verteidigungsrealität, in der der NATO-Generalsekretär nicht wie ein einsamer Rufer in der Wüste erscheint mit seinem Zwei-Prozent-Mantra. Noch haben Deutschland und die EU Zeit, die Weichen zu stellen für eine Ausgangslage, die sogar einen republikanischen Präsidenten Trump im Jahr 2025 überzeugen könnte, die NATO nicht aufzugeben. Aber es ist fünf vor zwölf.

 


 

Christina Bellmann ist Referentin für Transatlantische Beziehungen in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Alexander Schuster ist Referent für Europäische Sicherheit in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


 

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