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Auslandsinformationen

„Der Wesenskern der ­NATO ist ­unbedingte ­Verlässlichkeit“

von Dr. Sören Soika, Fabian Wagener

Ein Gespräch mit Botschafter Géza Andreas von Geyr

Der deutsche NATO-Botschafter Géza Andreas von Geyr spricht in den Auslandsinformationen über die militärische Abschreckung Russlands, eine mögliche Rückkehr Donald Trumps sowie die Schritte zu einem stärkeren europäischen Pfeiler im Bündnis.

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Auslandsinformationen (Ai): Herr Botschafter, die NATO wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Angenommen, Sie sollten auf der Geburtstagsfeier eine Laudatio halten. Was wäre die zentrale Errungenschaft der NATO, die Sie hervorheben würden?

Géza Andreas von Geyr: 75 Jahre NATO bedeuten 75 Jahre Frieden und Freiheit für die Länder, die unter dem Schutz der NATO waren und sind. Das bedeutet 75 Jahre Frieden und Freiheit im atlantischen Raum und in Europa, einem Kontinent, der über Jahrhunderte durch ständige Kriege geprägt war. Dies wurde auch deshalb möglich, weil sich die USA nach dem Zweiten Weltkrieg dazu entschieden haben, in und für Europa engagiert zu bleiben und die europäische Integration durch Sicherheit zu begleiten – in beidseitigem Interesse.

Ai: Nun mehren sich jedoch die Zweifel daran, dass die USA auch zukünftig ihre Interessenslage derart definieren und sich in Europa weiter so stark einbringen. Vor allem die Aussicht auf eine mögliche abermalige Präsidentschaft Donald Trumps sorgt in Europa bereits jetzt für große Verunsicherung. Diese Verunsicherung erreichte vor einigen Wochen einen vorläufigen Höhepunkt, als Trump die Beistandsgarantie für „säumige“ NATO-Bündnispartner infrage stellte. Wie nimmt man solche Äußerungen bei der NATO auf?

von Geyr: Die NATO hat einen Wesenskern. Dieser Wesenskern ist unbedingte Verlässlichkeit: Wenn es hart auf hart kommt, stehen alle füreinander ein, ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Das ist der innere Charakter des Artikel 5 des NATO-Vertrags. Der gilt und darf von niemandem leichterhand infrage gestellt werden. Wer das tut, schwächt die Allianz – und damit auch sich selbst.

Gleichzeitig wissen alle, dass die europäischen NATO-Länder mehr der gemeinsamen Verteidigungslasten für den atlantischen Raum auf ihre Schultern nehmen müssen. Dies tun die Europäer bereits seit einigen Jahren, aber es ist ein Prozess. Der NATO-Gipfel im Sommer wird zeigen, dass dieser Prozess erheblich Tempo aufgenommen und an Substanz gewonnen hat und so auf einem guten Weg ist. Das ist die entscheidende Botschaft, die auch in die amerikanische Öffentlichkeit gelangen muss: Die Europäer gewinnen in der NATO und damit auch für die USA als Sicherheitspartner an Relevanz, die Allianz ist und bleibt zentral für die heutigen und absehbaren Sicherheitserfordernisse, und dies ist im beiderseitigen fundamentalen Interesse.

Ai: Woran machen Sie fest, dass dieser Prozess Schwung aufgenommen hat?

von Geyr: Europäische Verteidigungsfähigkeit zeigt sich in mindestens drei unterschiedlichen Bereichen: Der erste ist die Europäische Union. Dort ist enorm viel gearbeitet worden an strukturellen Fragen und an sehr konkreten, teilweise finanziell kräftig unterlegten Projekten und Initiativen: Stichworte sind da PESCO, also die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik, aber auch etwa die neuen tiefgreifenden Förderinstrumente der Rüstungsindustriepolitik.

Der zweite Pfeiler sind die Europäer in der Allianz. Die europäischen NATO-Länder tun sich immer intensiver zusammen, um bestimmte Fähigkeiten gemeinsam zu entwickeln, zu kaufen und sich zu koordinieren; sie achten präziser auf gemeinsame Standards und Nutzbarkeit. Ein sehr konkretes Beispiel ist die European Sky Shield Initiative zur Stärkung der gemeinsamen Luftverteidigung – dringende Fähigkeitslücken werden von derzeit 21 europäischen Alliierten in einem gemeinsamen Ansatz gefüllt.

Der dritte Bereich ist die Vielzahl, das dichte Netz von bi- und multilateralen Kooperationsformen von Europäern untereinander, etwa bei der deutsch-französischen oder deutsch-niederländischen Kooperation oder der Benelux-Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Auch hier geht es um sehr konkretes gemeinsames Planen, Entwickeln und Handeln von Europäern, durch das auch die Allianz insgesamt an Stärke und Schlagkraft gewinnt, also alle profitieren.

Die Europäer stärken ihre Verteidigungsfähigkeit und ihre sicherheitspolitische Zusammenarbeit also auf verschiedenen Ebenen. Dass dieser Prozess auf einem guten Weg ist, sehen Sie auch am Anstieg der Verteidigungsausgaben so gut wie aller europäischen Länder. Es ist ein klarer Trend, gut und wichtig für Europa und auch für Amerika, denn auch die USA brauchen starke und verlässlich stabile Partner in der Sicherheitspolitik. So, wie sich das Sicherheitsumfeld absehbar entwickelt, schafft es keiner allein – und stabilere Partner als uns Europäer sehe ich für die USA nicht.

Ai: Sie sind seit August 2023 deutscher Botschafter bei der NATO. Wenn Sie auf Grundlage Ihrer bisherigen Eindrücke eine Stärke und eine Schwäche der Allianz – vielleicht auch mit Blick auf das konkrete Alltagsgeschäft in Brüssel – nennen müssten, welche wären das?

von Geyr: Die NATO bindet nun 32 Staaten zusammen. Das sind stolze Nationalstaaten mit langer, beeindruckender Geschichte. Sie haben sich aus eigenen Sicherheitsinteressen heraus zusammengetan und organisieren ihre Verteidigung gemeinsam in einer effizienten Allianz, dem stärksten Militärbündnis, das es gibt. Das ist eine enorme Leistung, die vielfältigste tägliche Abstimmung und Fokussierung verlangt. Es ist ein ständig laufender höchst komplexer Prozess, etwas anderes, als wenn es nur um ein Land mit einer einzigen festen Entscheidungsstruktur geht. Daher muss die NATO täglich aufpassen, dass aus dieser Komplexität nicht ein Übermaß an Kompliziertheit in den Abstimmungsprozessen wird. Es muss jeden Tag neu überdacht werden, was wirklich nötig ist, was man tun und vereinfachen kann, ob es mehr Tempo bei Entscheidungen braucht und wie funktionierende Kompromisse machbar werden. Das ständige gemeinsame Anpassen an die Aktualitäten und Erfordernisse, das Ausloten von Möglichkeiten und Notwendigkeiten unter den Alliierten ist unsere tägliche Aufgabe, kurzum: auf meiner Ebene im Nordatlantikrat sowie in den zahlreichen Untergremien gute deutsche NATO-Politik zu machen.

Ai: Auf Glückwünsche aus Moskau zu ihrem 75-jährigen Bestehen wird die NATO vermutlich vergeblich warten. Vor Ihrer Zeit bei der Allianz waren Sie deutscher Botschafter in Russland. Die Klagen der russischen Regierung über die NATO-Osterweiterungen kennen wir; auch die These, diese seien eine Bedrohung für Russland und der Krieg gegen die Ukraine eine Art Notwehr. Sind Sie mit diesen Argumentationsmustern während Ihrer Zeit in Moskau in persönlichen Gesprächen oft konfrontiert worden?

von Geyr: Mit diesen Argumentationsmustern bin ich in Moskau vom ersten Tag an konfrontiert worden, wobei man zwischen der Zeit vor dem Beginn des großangelegten Angriffs auf die Ukraine und danach unterscheiden muss. Zunächst war viele Jahre das ceterum censeo, dass sich die NATO aus eigenem Antrieb ausdehne, angeblich um Russland einzukreisen und zu schwächen. Dabei war natürlich auch dem Kreml immer klar, dass sich die NATO niemandem aufzwingt, sondern dass Staaten aus eigenen sicherheitspolitischen Überlegungen heraus um den Schutz in der Allianz nachsuchen. Da geht es um das Prinzip der freien Bündniswahl, ein völkerrechtliches Prinzip, das für alle gilt – auch wenn es dem Dominanzstreben Moskaus, dessen schlimmste Ausprägung wir im Krieg gegen die Ukraine sehen, entgegensteht.

Als man dann in Russland nach Beginn des Angriffskrieges merkte, dass es nicht gelang, die Ukraine schnell zu überrennen, konstruierte man einen neuen Kriegsgrund: Die NATO führe einen Krieg gegen die Russische Föderation mit dem Ziel, sie zu zerstören. Russland müsse sich verteidigen – wie nach 1941 gegen Nazi-Deutschland. Der Schauplatz dieses Krieges sei die Ukraine. Diese Propaganda-Variante, die man seit etwa Sommer 2022 ständig verkündet und die quasi den Spieß umzudrehen versucht, soll die Fehlschläge in der Ukraine der russischen Bevölkerung gegenüber übertünchen. Die Größe des angeblichen Gegners, eben der NATO, soll der Auseinandersetzung eine epochale Dimension verleihen. Die hinzugemischten Komponenten Antiamerikanismus, Antikolonialismus und Antiliberalismus sollen Länder des „Globalen Südens“ auf die russische Seite ziehen.

Dass beide Argumentationen absichtlich falsche Konstrukte sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung – aber wir müssen damit umgehen, auch mit der erheblichen Gefahr, die davon ausgeht: Der Kreml will auf Biegen und Brechen diese grundsätzliche, große Auseinandersetzung mit dem Westen – und der sicherheitspolitische Teil des Westens ist aus seiner Sicht eben vor allem die NATO.

Ai: Hatten Sie denn den Eindruck, dass Ihre Gesprächspartner in Russland diese Argumentationsmuster tatsächlich als zutreffend angesehen haben?

von Geyr: Glauben die Russen selbst, was sie sagen? Ich denke, diejenigen, die wirklich in der Materie drin sind: ganz bestimmt nein. Aber Russland ist ein Land, das sich in den vergangenen Jahren zu einer Diktatur entwickelt hat, die Medien unter rigoroser Kontrolle hält, die eine Wahrheitsfindung abseits der Linientreue nicht mehr duldet, keine Vielfalt der Meinungen mehr akzeptiert und damit auch nicht mehr die Freiheit zum Formulieren selbständiger Überlegungen. Insofern glaube ich, dass es fast müßig ist, zu fragen, ob die Leute daran glauben oder nicht. Es geht nicht mehr um Überzeugungskraft, sondern nur noch um Durchsetzungskraft.

Ai: Im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird viel mit den Begriffen „Sieg“ und „Niederlage“ operiert. Dabei ist nicht immer klar, was genau damit gemeint ist. Wann müssten wir aus Ihrer Sicht von einem Sieg Russlands sprechen? Und was würde ein solches Szenario für die NATO bedeuten?

von Geyr: Aus guten Gründen definiert niemand einhundertprozentig die Begriffe „Sieg“ oder „Niederlage“. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang die Konstante in unserer Politik hervorheben: Das ist das Prinzip der Souveränität und Integrität der Ukraine als Staat. Diese Souveränität ist mit dem Angriffskrieg Russlands brutal verletzt worden. Russland hat versucht, mit militärischen Mitteln territoriale Beute zu machen. Dieses Ansinnen darf und wird nicht gelingen. Das heißt: Die Russische Föderation muss aus den Gebieten, die ihr völkerrechtlich nicht zustehen, wieder raus.

Andernfalls würden wir akzeptieren, dass sich grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und des Miteinanders von Staaten in Europa so ändern, wie der Kreml sich das wünscht: nämlich hin, oder besser: zurück zu einem „Recht des Stärkeren“. Moskau strebt nach Dominanz über seine souveränen Nachbarn und nach Vetorechten über deren außenpolitische Wege. Diese Dominanzprinzipien spiegeln die Politik des 19. Jahrhunderts wider und passen nicht in eine moderne Sicherheits- und Friedensordnung, auch nicht zu den Vorschriften des Völkerrechts einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, deren Hüter Russland als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats eigentlich sein sollte. Deswegen ist es auch unser vitales Interesse, dass Russland damit keinen Erfolg hat. Unsere freie Lebensweise und die Sicherheit unserer Länder in Europa und im atlantischen Raum basieren ganz wesentlich darauf, dass vereinbartes Recht gilt, und zwar für alle.

Ai: Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Risiko, dass sich die russischen Ambitionen nicht auf die Ukraine beschränken, sondern weiterreichen und im Falle eines Erfolges in der Ukraine auch NATO-Mitglieder wie etwa die Baltischen Staaten einschließen könnten?

von Geyr: Der Krieg gegen die Ukraine seit 2022 ist ja nicht der erste Schritt Moskaus. Es gab 2014 die Annexion der Krim, 2008 das Vorgehen in Georgien mit dem Ergebnis zweier dort kreierter Entitäten, die niemand außer Moskau anerkennt. Es gab die russische Unterstützung zur Stabilisierung des Lukaschenka-Regimes in Belarus, außerdem Versuche der Einflussnahme bei mehreren Wahlen in Europa. Das Muster ist klar: Russland strebt nach Kontrolle und Vorherrschaft in seiner Nachbarschaft – und ist bereit zu allen Mitteln. Das unterstreicht der Kreml immer wieder mit eindeutigen oder doppeldeutigen Drohungen gegen unterschiedliche Staaten, auch Alliierte. Diese Drohungen sind unbedingt ernst zu nehmen. Angesichts der Entwicklungen innerhalb Russlands spätestens seit Kriegsausbruch und seinem Gebaren nach Außen, etwa den Kooperationen mit dem Iran und Nordkorea, scheint eine Umkehr der gegenwärtigen russischen Staatsmacht von diesem Kurs kaum mehr möglich. Deshalb ist es verständlich, dass sich auch NATO-Mitglieder und -Partner unsicher fühlen. Aus diesem Grund ist es unbedingt geboten, dass wir als Allianz alles tun, um gewappnet zu sein, um das, was jemand im Kreml möglicherweise im Kopf haben mag, durch Abschreckung zu verhindern und uns jederzeit verteidigen zu können. Außerdem ist es zentral, dass wir als Staaten bilateral die Ukraine mit vielfältigen Mitteln auf Dauer nach Kräften unterstützen, damit sie ihren legitimen Abwehrkampf erfolgreich gestalten kann und es nicht zu weiteren derartigen Aggressionen Russlands kommt.

Ai: Sie haben zu Beginn darauf verwiesen, dass die Verteidigungsausgaben auch der europäischen NATO-Staaten gestiegen sind. Dennoch gibt es immer wieder Stimmen, die sagen, dass wir – Stand heute – noch nicht die Fähigkeiten haben, die wir bräuchten, um einer Bedrohung durch Russland erfolgreich entgegenzutreten. Wo besteht aus Ihrer Sicht im Bereich der Rüstungszusammenarbeit noch Verbesserungsbedarf, weniger mit Blick auf die Finanzen, sondern eher im Organisatorischen?

von Geyr: Ohne Geld geht’s nicht. Wir haben jetzt in Deutschland die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr. Das muss gut genutzt werden. Und auch für die Zeit danach braucht es ausreichende Mittel. Das ist das eine. Das andere ist die Frage: Wie organisiert sich Europa im Rüstungsbereich? Hier ist schon viel gemacht worden. Vor fünf, sechs Jahren hätte niemand gedacht, dass die Europäische Union im Bereich Verteidigungsfähigkeit und bei konkreten Beiträgen zu rüstungsrelevanten Maßnahmen der Mitgliedstaaten dort ankommen würde, wo sie heute ist. Das kann und muss sich weiter intensivieren, aber der Weg ist vorgezeichnet und aus meiner Sicht gut. Auch die Europäer in der NATO tun viel, das Stichwort Sky Shield Initiative habe ich schon genannt. Jetzt kommt es in einem nächsten Schritt darauf an, gerade bei der Unterstützung der Rüstungsindustrie die produktivitätsfördernden Möglichkeiten der NATO und der EU ideal zusammenzubringen und zu einem Höchstmaß an Kooperation und Koordination zu kommen. Da sehe ich am meisten Raum für Optimierungen. Wir haben europäische Rüstungsindustrien, die sehr unterschiedlich aufgebaut sind. In manchen Ländern sind sie stark marktwirtschaftlich organisiert, in anderen hält der Staat große Anteile an Rüstungsfirmen, aber alle brauchen Planungssicherheit und Rückhalt. Am Ende geht es darum, gemeinsam Lücken zu erkennen und entsprechend zu investieren. Der Weg ist klar vorgezeichnet.

Ai: Stichwort Kooperation und gemeinsames Vorgehen: Nicht immer hat man den Eindruck, dass die Mitglieder der NATO in zentralen Fragen vollständig an einem Strang ziehen. Ein Beispiel ist der Aufnahmeprozess von Finnland und Schweden, den speziell Ungarn und die Türkei lange verzögert haben. Auch in anderen Fragen zeigen sich diese Staaten nicht nur aus deutscher Sicht als eine Art „problematische“ Verbündete. Können Sie uns erklären, warum sie trotzdem wichtige Verbündete sind?

von Geyr: Lassen Sie mich zunächst kurz auf das Thema Finnland und Schweden eingehen, das Sie angesprochen haben: Im Grunde geht es da ja nur um eine einzige Frage: Sind Finnland und Schweden eine Bereicherung für die Sicherheit der NATO? Da ist die Antwort völlig eindeutig und wird von allen in der Allianz gleich beantwortet: Ja, beide mehren die Sicherheit der Allianz. Einige Partner haben das Thema mit anderen Fragen angereichert. Aber wie es so ist im Leben: Man muss den Fokus auf der Kernfrage halten. Keiner ist naiv: Natürlich hat jedes Land seine eigene Innenpolitik im Kreuz, auch wir. Aber das darf kein Grund dafür sein, fundamentale Entscheidungen unserer gemeinsamen Sicherheit im Übermaß zu verzögern.

Nun zu Ihrer eigentlichen Frage: Wir sitzen hier in der Allianz alle mit dem Interesse an einem Tisch, unsere Sicherheit gemeinsam zu gestalten. Jedes Mitglied leistet seinen Beitrag für die Sicherheit der Allianz. Weil Sie die Türkei und Ungarn ausdrücklich angesprochen haben: Die Türkei hat eine geografische Lage, die für die NATO ungeheuer wichtig ist, und sie spielt im Schwarzen Meer eine ganz zentrale Rolle. Aus diesen und anderen Gründen ist die Türkei für uns seit Jahrzehnten ein wichtiger Partner in der Allianz. Umgekehrt wird die Bedeutung der NATO für Ankara gewiss nicht geringer sein.

Das gilt für Ungarn ähnlich. Ich bin mir sicher, dass es Ungarn völlig klar ist, dass die Sicherheit des Landes am besten unter dem kollektiven Schutzschirm der NATO gewährleistet ist, der Verlässlichkeit verlangt. Eine Alternative erkenne ich nicht, übrigens auch nicht mit Blick auf die Geschichte des Landes. Ungarn zeigt sich als sicherheitspolitischer Partner in der Allianz übrigens durchaus anders als in der EU. In der Vielzahl der Fragen des täglichen Miteinanders nehmen wir Ungarn als soliden Alliierten wahr – umso verstörender wirken die gelegentlich plakativen Abweichungen Ungarns bei einigen zentralen politischen Einschätzungen und Themen.

Ai: In ihrem Strategischen Konzept von 2022 bekennt sich die NATO sowohl zur Bündnisverteidigung als auch zu Krisenprävention und -bekämpfung, genau wie zum Ansatz der kooperativen Sicherheit durch Zusammenarbeit mit Partnerstaaten, die nicht Teil der NATO sind. Das sind ganz schön viele Aufgaben. Haben die NATO und ihre Mitglieder die Ressourcen, um diesen Ansatz wirklich mit Leben zu füllen?

von Geyr: Klar ist, dass das Thema Russland derzeit dominiert, und man kann prophezeien, dass das auch für die nächsten Jahre gilt. Danach richtet sich die Allianz aus. Gleichzeitig behalten alle Aufgaben, die Sie genannt haben, ihre Bedeutung. Die NATO kann es sich nicht leisten, aus dem auszusteigen, was als 360-Grad-Betrachtung der Sicherheit bezeichnet wird.

Sie haben die NATO-Partnerschaftspolitik erwähnt, die sehr wichtig ist, um die Bindungen der Allianz in ihrer Nachbarschaft und auch weit darüber hinaus zu festigen und zu vertiefen – übrigens auch, um andere Staaten von unserer Position mit Blick auf die Ukraine zu überzeugen und den Versuchen des Kremls etwas entgegenzusetzen, in diesen Staaten die russischen Argumente unter die Leute zu bringen. Die NATO-Partnerschaftspolitik ergänzt in diesem Punkt also auch die Abschreckungspolitik gegenüber Russland.

Und die durchaus brisanten Vorkommnisse im Kosovo im vergangenen Jahr haben uns daran erinnert, dass auf dem Westlichen Balkan die Stabilität noch nicht das Niveau erreicht hat, das uns Sorgen nimmt – im Gegenteil verstärkt die NATO dort gerade ihre Präsenz. Die Ausrichtung auf die große Gefahr Russland hat also Priorität. Aber das heißt nicht, dass das andere völlig nachrangig wird.

Ai: Sie haben nun Russland als das derzeit bestimmende Thema genannt. Was sind denn daneben in der näheren und mittleren Zukunft Herausforderungen, die Sie sehen und die vielleicht im öffentlichen Diskurs noch nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen?

von Geyr: Ich würde drei nennen: Die erste Herausforderung ist die Frage des Tempos, der Zeitfaktor. Schaffen wir es, bei der Anpassung der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit der Allianz das nötige Tempo reinzubringen? Das wird enorme Anstrengungen erfordern.

Zweitens müssen wir die Notwendigkeiten der Sicherheitspolitik in die Köpfe der Menschen bringen. Auch da müssen sich alle anstrengen, das gilt für uns in Deutschland genauso wie für die anderen NATO-Staaten. Die Veränderungen der „Zeitenwende“ und ihre tiefgreifenden Umsetzungen müssen von der Überzeugung der Bevölkerung getragen werden. Dafür müssen die Menschen nachvollziehen können, dass die Weltlage und die Situation im euro-atlantischen Raum es leider nötig machen, dass wir entsprechend in sicherheitsrelevante Bereiche investieren und daher in anderen Bereichen mit den Mitteln sparsamer umgehen müssen. Es braucht also viel Überzeugungsarbeit.

Das dritte Thema ist das Gefahrenspektrum aus dem Informationsraum durch Manipulationsmöglichkeiten der Wahrheit – wenn sich Desinformation in einer Weise entwickelt und technisch perfektioniert, sodass man den Wahrheitsgehalt einer Aussage oder eines Bildes kaum noch sicher feststellen kann. Für mich kann das zur vielleicht entscheidendsten Zukunftsfrage auch für unsere Sicherheit werden.

 

Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.

 


 

Dr. Géza Andreas von Geyr ist seit August 2023 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO. Zuvor war er unter anderem Botschafter in Moskau, Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung, Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes und Referatsleiter in der außen- und sicherheitspolitischen Abteilung im Bundeskanzleramt.

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