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Über den Werdegang einer arabischen Demokratie

Gesellschaftliche Brüche und politische Kompromisse in Tunesien

Die Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Würde, die im „Arabischen Frühling“ zum Ausdruck kamen, sind vielerorts längst zerschellt. Einzig Tunesien gelang seit 2011 ein demokratischer Wandel. Gesellschaftliche Brüche wurden dort im Dialog und Konsens bearbeitet. Doch um Demokratie und Rechtsstaat nachhaltig zu verankern, müssen auch die Kluft zwischen Eliten und Bürgern sowie das regionale Macht- und Entwicklungsgefälle überwunden werden.

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Protest vor der Verfassunggebenden Versammlung für den Sturz der islamistisch dominierten Regierung in Tunis 2013.

Wir oder die Anderen. Zu den Gründen, warum nach den Umbrüchen von 2010/2011 der demokratische Wandel in der arabischen Welt weithin scheiterte, gehört die unversöhnliche Härte, mit der vielerorts um die Macht gerungen wurde. Ägypten steht idealtypisch dafür, wie die Gewalt zwischen Al-Sisis Militärregime und den Anhängern der gestürzten Muslimbrüder jede politische Entwicklung blockiert. In Syrien löste die brutale Niederschlagung der Oppositionsbewegung durch das Regime eine Gewaltspirale aus, die das Land in den Bürgerkrieg riss und Raum schuf für terroristische Gruppen. In Libyen standen sich in Ost und West lange zwei Regierungen gegenüber, die sich gegenseitig die Legitimität absprachen. Wenn aber politischer Sieg oder Niederlage nicht mehr nur über Macht und Einfluss entscheiden, sondern über die physische Existenz ganzer Bevölkerungsgruppen, wird die Region nicht zur Ruhe kommen.

Tunesien zeigt dazu eine Alternative auf. Seine Demokratisierung erreichte das nordafrikanische Land mit dem Streben nach Konsens, Dialog und Inklusion. Die nahezu einstimmige Verabschiedung einer neuen Verfassung am 27. Januar 2014 und die freien Wahlen im selben Jahr, gefolgt von einem friedlichen Machtwechsel, markieren die formale Vollendung der politische Transition Tunesiens. Der Schlüssel für den friedlichen und demokratischen Wandel liegt dabei im Aushandeln der gesellschaftlichen Konfliktlinien, welche das Land genauso wie die meisten anderen arabischen Länder durchziehen. Die Entwicklung in Tunesien ist seit dem Regimesturz Anfang 2011 und bis heute von einem doppelten Kompromiss gekennzeichnet – dem zwischen Revolution und Kontinuität sowie dem zwischen Modernisten und Islamisten. Gleichwohl bleiben andere Konfliktlinien unbearbeitet und bergen damit das Risiko für ein Ende des sozialen Friedens, für politische Instabilität oder gar für einen Rückfall in autoritäre Regierungsmuster. Zuvorderst ist hier der Bruch zwischen Zentrum und Peripherie zu nennen, also das Macht- und Wohlstandsgefälle zwischen der Hauptstadt und der Küstenregion einerseits und den vernachlässigten Binnenregionen andererseits. Außerdem zeigt sich zunehmend ein Bruch zwischen den herrschenden Eliten und einer Bevölkerung, die sich frustriert aus dem politischen Prozess verabschiedet. Internationale Partner müssen diese Entwicklung im Auge behalten, um ihre Hilfen für Tunesien möglichst zielgerichtet und nachhaltig zum Einsatz zu bringen.

Erster Kompromiss: zwischen Revolution und Kontinuität

Dégage! Den französischen Kraftausdruck für „Verschwinde!“ schleuderten die Demonstranten am 14. Januar 2011 auf der Avenue Bourguiba in Tunis ihrem autokratischen Herrscher entgegen. „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ lautet unmissverständlich ein anderer bekannter Slogan der tunesischen Revolution, der bald darauf auch jenseits der Landesgrenzen seinen Widerhall fand. Die Proteste richteten sich gegen einen Status quo, der zunehmend als unerträglich empfunden wurde. Sie zielten auf die korrupte Herrscherclique, aber auch auf ein System insgesamt, dessen Günstlingswirtschaft statt Zukunftschancen immer mehr Arbeitslosigkeit produzierte und das die Bürger staatlicher Willkür und einem repressiven Polizeiapparat auslieferte. Nach der Flucht von Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali versuchten regimenahe Kreise unter der Führung Mohamed Ghannouchis, der seit 1999 das Amt des Ministerpräsidenten ausübte, durch eine moderate Öffnung und Einbeziehung einiger etablierter Oppositionsgruppen einen sanften Wandel zu gestalten. Daraufhin kam es erneut zu Demonstrationen, die nach der Bezeichnung für den Regierungssitz in Tunis, vor dem die Proteste stattfanden, als Kasbah I und Kasbah II bekannt wurden. Die revoltierende Jugend wollte den kompletten Bruch mit dem ancien régime.

Die revoltierende Jugend forderte den kompletten Bruch mit dem ''ancien régime''.

Daneben lässt sich in Tunesien, gerade in der städtischen Mittelschicht, eine ausgeprägte Verbundenheit mit dem Staat feststellen. Sie resultiert nicht zuletzt aus dem Stolz auf die fortschrittlichen Errungenschaften nach der Unabhängigkeit, etwa den relativ gut entwickelten Bildungssektor und die in der arabischen Welt einmaligen Frauenrechte. Angesichts eines relativ kleinen und rohstoffarmen Landes wird auf die „Kontinuität der Nation“ und Stabilität als Voraussetzung nationaler Souveränität besonders Wert gelegt. Nicht zufällig avancierte 2014 die Rückkehr von haybat ad-dawla („Prestige und Autorität des Staates“) zu einem der populärsten Wahlkampfversprechen des späteren Präsidenten Béji Caid Essebsi. So verärgert die meisten Tunesier über die aufgeblähte, bürokratische und teils korrupte administration auch sein mögen, so ist doch oft Erleichterung oder gar Anerkennung darüber spürbar, dass die Verwaltung nach dem Zusammenbruch der 23-jährigen Regentschaft Ben Alis am nächsten Tag – und all die turbulenten Jahre der Transition hindurch – einfach weitermachte.

Diese Dialektik widerspiegelnd pendelte sich der tunesische Transformationsprozess schon in den ersten Monaten auf einen Mittelweg zwischen Umbruch und Kontinuität ein. Musste die von Ben Ali-Getreuen getragene Ghannouchi-Regierung unter dem Druck der Straße noch zurücktreten, nahm mit der Ernennung Béji Caid Essebsis zum Übergangspremier am 27. Februar 2011 das Establishment das Heft des Handelns wieder in die Hand. Essebsi, der seit den 1960er Jahren verschiedene Regierungsämter bekleidet hatte, verkörperte die Fortschreibung des tunesischen Projekts der Nation- und Staatsbildung aus der Zeit der Unabhängigkeit. Zugleich hatte er sich vor 20 Jahren aus der Politik zurückgezogen und verfügte damit über ausreichend Distanz zu den Exzessen gerade der letzten Jahre des Ben Ali-Regimes. Als Übergangspremier unternahm der einnehmend volksnah und staatsmännisch zugleich auftretende Essebsi rasch einige auch symbolträchtige Schritte wie die Auflösung der Staatspartei RCD, der beiden Parlamentskammern und der politischen Polizei sowie das Aussetzen der Verfassung von 1956. Diejenigen „Revolutionäre“, die sich für einen noch deutlicheren Neuanfang aussprachen, konnten vor diesem Hintergrund die Öffentlichkeit nicht mehr mobilisieren. Ihr Versuch einer „Kasbah III“ scheiterte. Essebsi selbst schickte am Ende die letzten Demonstranten vor seinem Regierungssitz nach Hause.

Parallel konstituierten sich drei Kommissionen. Diese gingen aus traditionellen Oppositionsgruppen und revolutionären sozialen Bewegungen hervor und vereinten deren Vertreter sowie rechtswissenschaftliche Fachleute. Die wichtigste darunter war die „Hohe Instanz zur Verwirklichung der Revolution, der politischen Reform und demokratischen Transition“. Das nach seinem Vorsitzenden auch Ben Achour-Kommission genannte Gremium fungierte bis zu den Wahlen als eine Art konsultatives „Revolutionsparlament“. Aus legaler Sicht war dies eine wacklige Konstruktion, denn der Übergangspremier war von einem eigentlich schon gestürzten Regime ernannt worden und niemand hatte die Mitglieder der Kommission je gewählt. Doch konnten damit die Kontinuität des Staates (verkörpert durch den Regierungschef Essebsi) und die Legitimität der Revolution (verkörpert durch die Hohe Instanz) glaubwürdig zusammengebracht werden.

Mit dem Wahlergebnis vom 23. Oktober 2011 machten die Tunesier dann noch einmal deutlich, dass sie einen politischen Neuanfang wollten. Die drei Parteien, die sich explizit auf das Erbe von Ben Alis Staatspartei RCD beriefen, erreichten zusammengenommen nicht einmal vier Prozent der Stimmen. Zugleich blieben die Ergebnisse des extrem zersplittert auftretenden „modernistischen“ Lagers, dessen Parteien von den städtischen liberalen Eliten dominiert wurden, hinter den Erwartungen zurück. Nach der islamistischen Ennahda (37 Prozent), die als ehedem verbotene und verfolgte Partei den Bruch mit dem ancien régime besonders stark verkörperte, wurde der Kongress für die Republik (CPR) mit 8,7 Prozent zweitstärkste Partei. Dessen Vorsitzender, der kurz darauf zum Staatspräsidenten gewählte Menschenrechtsaktivist Moncef Marzouki, hatte besonders explizit eine „revolutionäre Agenda“ vertreten (damals noch mit eher säkular-progressivem Anstrich, in den Folgejahren jedoch mit viel stärkerer Fokussierung auf die arabisch-islamische Identität Tunesiens).

Doch die folgende „Troika-Regierung“ (neben Ennahda und dem CPR beteiligte sich noch die sozialdemokratische Ettakatol) bediente sich nun ihrerseits aus der Instrumentenkiste von Klientelismus und Vetternwirtschaft, wie sie aus dem alten Regime wohlbekannt war. Die Versorgung der eigenen Anhängerschaft (insbesondere im öffentlichen Dienst) ließ dabei eine „zusätzliche Schicht“ zu den bestehenden Apparaten entstehen. Bitter bemerkt der linke Intellektuelle Aziz Krichen, der Berater Marzoukis im Präsidialamt war und später desillusioniert zurücktrat, über diese von Ennahda-Generalsekretär Hamadi Jebali geführte Regierung: „Sich der Logik des revolutionären Bruchs verweigernd, suchte sie stattdessen die Zusammenarbeit mit den Personen und den Netzwerken des Ben Ali-Systems – mit dem naiven Hintergedanken, diesen zu schmeicheln, sie damit für sich zu gewinnen und sie schließlich zum eigenen Nutzen arbeiten zu lassen.“

Auf Seiten der Opposition erlaubte die Gründung von Nidaa Tounes als anti-islamistische Sammlungsbewegung eine Reintegration ehemaliger Anhänger des RCD, einschließlich der für die Wählermobilisierung wichtigen regionalen und lokalen Strukturen der ehemaligen Staatspartei. Anstatt auf den weithin diskreditierten Ben Ali beriefen sich die „Ehemaligen“ nun auf die national-aufklärerische Tradition von Staatsgründer Bourguiba, dessen identitätsstiftendes Vermächtnis Essebsi und sein Umfeld geschickt zu neuer Blüte brachten. Und in der Tat: Die Gefahr einer Islamisierung (und damit das Ende des bourguibistischen Projekts eines modernen und fortschrittlichen Nationalstaates) erschien nun gerade der Mittelschicht in den Küstenregionen größer als die einer autoritären Restauration. Zugleich tauchte die sich verschlechternde Sicherheits- und Wirtschaftslage die vorrevolutionäre Ära für viele zunehmend mit Alltagsproblemen kämpfende Tunesier nun in ein günstigeres Licht.

Die Rekonfiguration der Parteienlandschaft erlaubte also durchaus die Inklusion ehemaliger Anhänger Ben Alis. Tunesien hat eben kein „Exklusionsgesetz“ verabschiedet wie Libyen, das dort den Gefolgsleuten Gaddafis politische Partizipation pauschal untersagte. Doch das bedeutete keineswegs eine Rückkehr zum Status quo ante oder eine generelle Straflosigkeit für die Büttel des alten Regimes. Mit der „Instanz Wahrheit und Würde“ (IVD) wurde Ende 2013 eine unabhängige (wenn auch umstrittene) Übergangsjustiz geschaffen, welche die durch die staatlichen Behörden seit der Unabhängigkeit begangenen Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten soll. Gegen die meist ins Ausland geflüchteten Angehörigen der einstigen Herrscherfamilie selbst und andere Führungskader wurden Prozesse angestrengt und Haftbefehle erlassen. Dass eine solche Aufarbeitung gesellschaftlich nach wie vor gewollt ist, zeigte 2015 die Auseinandersetzung um das „Gesetz zur wirtschaftlichen Aussöhnung“. Von Staatspräsident Essebsi direkt nach seinem Amtsantritt lanciert, um Geschäftsleuten und Funktionären die Wiedereingliederung zu erleichtern, scheiterte die Initiative nach Widerstand aus der Zivilgesellschaft (und zum Teil auch aus seiner eigenen Partei), die damit ein „Freikaufen“ aus der Korruption ohne ordentlichen Prozess ermöglicht sah. Auch die Wiederauflage der Initiative im Frühjahr 2017 löste Straßenproteste aus und stieß auf Widerstand von Parteien, auch aus dem modernistischen Spektrum.

Durch das Zusammenspiel (bzw. das gegenseitige Ausbalancieren) der verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure wurde die tunesische Transition also auf einem Mittelweg zwischen revolutionärem Wandel und staatlicher wie personaler Kontinuität gehalten. Hat das Land dadurch die Chance auf einen wirklichen Neuanfang verpasst? Der Verfassungsrechtler Yadh Ben Achour, der die Übergangsphase 2011 selbst entscheidend mitprägte, beklagt heute, dass „die aktuelle Mehrheitskoalition zunehmend in die Rückkehr der ‚Ehemaligen‘ und in offenkundige Formen der Korruption impliziert ist. (…) Die neue Troika aus Ennahda, Nidaa und RCD kann als höchste Beleidigung der Revolution gesehen werden. Der zivile Frieden hat wahrscheinlich diesen Preis, selbst wenn es das Herz der Freunde der Revolution zerreißen muss.“ Denn gerade angesichts der erbitterten und eben oft gewaltsamen Auseinandersetzungen andernorts in der arabischen Welt zwischen Regime und Opposition, zwischen den Kräften der Beharrung und denjenigen des Wandels, erwies sich diese „integrative“ tunesische Methode der Transition bislang jedenfalls als ein gangbarer Weg, um Stabilität und Demokratisierung gleichermaßen sicherzustellen.

Zweiter Kompromiss: zwischen Modernisten und Islamisten

Die Debatte zwischen „Islamisten“ und „Modernisten“ hat eine lange Tradition in der arabischen Welt. Sie geht auf die Frage zurück, wie mit dem Rückstand gegenüber dem Westen umzugehen ist, der spätestens mit der Kolonialisierung offensichtlich und schmerzhaft spürbar geworden war – durch Nachahmung und die Übernahme der europäischen Errungenschaften etwa in Technik und Bildung bis hin zur Religionsauslegung, oder aber durch Rückbesinnung auf die als ursprünglich empfundenen islamischen Werte und Lebensmuster aus der Frühzeit des Islam.

Wie in anderen Ländern der Region, etwa in Ägypten unter Gamel Abdel Nasser, setzte sich in Tunesien nach der Unabhängigkeit 1956 das „fortschrittliche“ Lager durch, das sich ideologisch auf den arabischen Nationalismus (und wirtschaftspolitisch auf Variationen des Sozialismus) stützte. Tunesiens erster Staatspräsident Habib Bourguiba, ein in Paris ausgebildeter Jurist und Führer der Unabhängigkeitsbewegung gegen das französische Protektorat, verordnete eine Modernisierung, welche die traditionell-religiösen Eliten entmachtete und persönliche Freiheitsrechte, gerade auch für Frauen, festschrieb. In Opposition zum säkular-autoritären Regime und inspiriert vom Vorbild der ägyptischen Muslimbruderschaft, organisierten sich in Tunesien islamisch-konservative Kräfte ab Ende der 1970er Jahre und gründeten schließlich die Ennahda-Partei, die bis zur Revolution 2011 verboten bleiben sollte. Unter der modernen Fassade, die das Regime Ben Alis gerade für seine internationale Reputation nur allzu gerne präsentierte, war auch Tunesien von den gesellschaftlichen Islamisierungstendenzen der letzten Jahrzehnte in der arabischen Welt betroffen.

Wie andernorts in der arabischen Welt herrschte im beginnenden Transformationsprozess 2011 sowohl bei Islamis ten wie Modernisten die Sorge, das jeweils andere Lager würde dem Land nun sein spezifisches Politik- und Gesellschaftsmodell aufzwingen. Nachdem in den ersten freien Wahlen die Ennahda-Partei stärkste Kraft geworden war und die darauf folgende, „Troika“ genannte Koalitionsregierung dominierte, machte sich dort erst einmal ein „Jetzt sind wir (endlich) dran“-Gefühl breit. Schlüsselstellen in Verwaltung und im Sicherheitsapparat wurden mit Gefolgsleuten besetzt, Parteigänger (einschließlich der Opfer des Ben Ali-Regimes) entsprechend versorgt. Den Umtrieben radikaler islamistischer Gruppen ließ die Ennahda-Partei zumindest im ersten Regierungsjahr freien Lauf und im Verfassungsprozess machte sie sich für stärkere Referenzen zum Islam und islamischen Recht stark.

Angesichts dieser Dynamik – und katalysiert durch zwei Morde an linken Oppositionspolitikern im Februar und Juni 2013 – mobilisierte sich das modernistische Lager. Die säkular ausgerichtete Zivilgesellschaft gewann mit Massendemonstrationen und den überwiegend regierungskritischen Medien und Intellektuellen die Meinungshoheit für sich zurück. Essebsi gelang es unterdessen, mit seiner im Juni 2012 gegründeten Partei Nidaa Tounes eine politische Alternative zur Ennahda aufzubauen. Dort sammelten sich die Befürworter eines säkularen Staates ganz unterschiedlicher Couleur – von Gewerkschaftsvertretern und Menschenrechtlern bis hin zu liberal gesinnten Unternehmern und Anhängern des alten Regimes.

Im Sommer 2013 standen sich die beiden Lager in Tunesien polarisiert wie nie zuvor gegenüber. Zugleich veränderte sich der internationale Kontext: Am 3. Juli dieses Jahres übernahmen in Kairo die Militärs – mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung – die Macht und drängten die ein Jahr zuvor in freien Wahlen siegreichen Muslimbrüder aus dem Amt. Der Aufstieg des politischen Islam im Zuge des „Arabischen Frühlings“ schien beendet. Auch in Tunis lag nun ein Hauch von Putsch in der Luft. Doch das zwischenzeitlich erreichte interne Mächtegleichgewicht zwischen Islamisten und Modernisten, das wenig erbauliche Szenario in Ägypten, wo unterdessen die Gewalt eskalierte, und der internationale Druck auf das von Finanzhilfen abhängige Tunesien ließen letztlich die Einsicht auf allen Seiten wachsen, zu einer Konsens-Lösung kommen zu müssen. Die tunesischen Akteure konnten dabei an eine Kooperations- und Dialogtradition anknüpfen, die modernistische und islamistische Oppositionelle bereits in der Ära Ben Alis entwickelt hatten.

Die politische Zusammenarbeit zwischen Islamisten und Modernisten ist in beiden Lagern umstritten.

Zivilgesellschaftlichen Organisationen unter Führung der (traditionell eher säkular ausgerichteten) Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) gelang es vor diesem Hintergrund, im Rahmen eines „Nationalen Dialogs“ die politischen Parteien an einen Tisch und damit die bis dahin blockierte Arbeit in der Verfassunggebenden Versammlung wieder in Gang zu bringen. Zugleich einigten sich die beiden wichtigsten Politiker des Landes, die sich zu den allgemein anerkannten Führern des modernistischen und islamistischen Lagers entwickelt hatten: Am 14. August 2013 trafen sich Essebsi und der Ennahda-Vorsitzende Rached Ghannouchi in Frankreich. Zusammen mit dem „Nationalen Dialog“ wurde der „Handschlag von Paris“ zum entscheidenden Wendepunkt der tunesischen Transition und verhinderte eine gewaltsame Konfrontation zwischen Modernisten und Islamisten. Man einigte sich auf einen dreifachen Kompromiss, der schließlich erfolgreich umgesetzt wurde – Einsetzen einer technokratischen Übergangsregierung, Vollendung des Verfassungsprozesses sowie Vorbereitung allgemeiner Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Den folgenden Wahlkampf prägte dennoch erneut die Islamisten-Modernisten-Polarität. Unter dem Slogan vote utile (nützliche Stimme) warnten Essebsi und Nidaa Tounes vor einer erneuten Zersplitterung und Niederlage gegen die Islamisten. Sie scharten schließlich das modernistische Lager hinter sich und konnten die Parlaments- wie die Präsidentschaftswahlen deutlich für sich entscheiden: Die Partei erhielt knapp 37 Prozent der Stimmen und damit 86 der 217 Sitze im Parlament; Essebsi setzte sich im zweiten Wahlgang mit 56 Prozent (1,7 Millionen Stimmen) gegen den bisherigen Amtsinhaber Marzouki (44 Prozent und 1,4 Millionen Stimmen) durch. Wenngleich für die Regierungsbildung rechnerisch auch eine Mehrheit gegen Ennahda, die mit rund 28 Prozent (69 Sitze) zweitstärkste Kraft im Parlament wurde, möglich gewesen wäre, setzte Essebsi auf eine große Koalition mit den Islamisten.

Nur so wurde aus seiner Sicht eine stabile Regierung gewährleistet und verhindert, dass Ennahda sich als Oppositionspartei und Regierungsalternative profiliert. Die Islamisten sollten in Verantwortung genommen werden für die anstehenden schwierigen Aufgaben, anstatt ihre Mobilisierungskraft gegen die von Modernisten und Technokraten dominierte Regierung in Stellung zu bringen. Ghannouchi wollte seinerseits seine Partei durch die Regierungsbeteiligung im politischen Mainstream verankern und verhindern, dass der Staatsapparat (so wie während des alten Regimes in Tunesien und wie nun wieder in Ägypten gegen die Muslimbrüder) gegen sie eingesetzt werden kann. Zudem sollte seinem Kalkül zufolge eine erneute politische und gesellschaftliche Isolierung der Ennahda, wie sie vor allem im Jahr 2013 offensichtlich wurde, vermieden werden. Mit dem umjubelten Auftritt des Staatspräsidenten Essebsi beim Parteitag der Ennahda im Mai 2016, die sich dort (jedenfalls vordergründig) von ihrer islamistischen Fundamentalrhetorik löste, wurde diese neue Ära der modernistisch-islamistischen Kooperation auf höchster Ebene deutlich gemacht. Gleichwohl tragen in beiden Lagern bei Weitem nicht alle diesen Weg mit und die Frage nach „Wie viel Islam?“ ist in Politik und Gesellschaft zumindest latent weiterhin vorhanden und damit auch politisch mobilisierbar. In der gegenwärtigen Restrukturierung der Parteienlandschaft sowie angesichts der anstehenden Kommunalwahlen könnte sie erneut an Schärfe gewinnen.

Fortbestehende Brüche: zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Eliten und Bürgern

Der doppelte Kompromiss zwischen Revolution und Kontinuität sowie zwischen Modernisten und Islamisten war wohl notwendig, ist aber keinesfalls ausreichend für die Konsolidierung der tunesischen Demokratie. Andere gesellschaftliche Brüche blieben mit diesem Kompromiss, der zuvorderst ein Elitenkompromiss war und dessen Breitenwirkung begrenzt blieb, unbearbeitet oder haben sich sogar noch verschärft. Dies betrifft insbesondere die Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie sowie diejenigen zwischen den regierenden Eliten und der breiten Bevölkerung.

Das Macht- und Wohlstandsgefälle sowie die kulturell-identitären Unterschiede zwischen der Hauptstadt und der nordöstlichen Küstenregion (der tunesische Sahel) einerseits, und den Binnenregionen im Nordwesten, Zentrum und (teilweise) Süden des Landes andererseits sind seit Jahrzehnten ein strukturierendes Element in Tunesien. Die Arbeitslosigkeit ist im Landesinneren im Schnitt doppelt so hoch wie an der Küste. 85 Prozent der tunesischen Wirtschaftsleistung werden in den drei größten Städten Tunis, Sousse und Sfax erwirtschaftet. Die Infrastruktur ist in praktisch allen Bereichen unausgewogen – von der Gesundheitsversorgung bis hin zum Bildungssystem. Beispielhaft seien die Müttersterblichkeit (in der Stadt Kasserine im Nord-Westen dreimal so hoch wie in Tunis), die Analphabetismus-Rate (32 Prozent in Kasserine, zwölf Prozent in Tunis) und der Anschluss der Haushalte ans Trinkwassernetz genannt. Während dieser im Großraum Tunis 90 Prozent erreicht, liegt er in Kasserine bei knapp einem Drittel. Die Ursprünge dieser Kluft gehen bis auf die Zeit des französischen Protektorats zurück, das aus den Küstenstädten seine Verwaltungsfunktionäre rekrutierte. Sie wurde dann durch die Wirtschafts- und Strukturpolitik seit der Unabhängigkeit (wie Förderung des Massen-Strandtourismus und Exportorientierung der verarbeitenden Industrie) verfestigt. Die Binnenwanderung der Landbevölkerung in die Küstenstädte, die mit den missglückten sozialistischen Agrar-Experimenten der 1960er Jahre einsetzte, hat zudem zu oft wild bebauten Vororten geführt, die in sozioökonomischer und kultureller Hinsicht weiterhin zur Peripherie zu rechnen sind. Im vernachlässigten Zentraltunesien hat die Revolution am 17. Dezember 2010 dann auch ihren Ausgang genommen und ihren höchsten Blutzoll gezahlt.

Zwar wurden seitens der Regierung in den letzten Jahrzehnten hier und da immer wieder großangelegte Projekte lanciert und das Armutsniveau im Land ging insgesamt zurück. Doch strukturelle Fortschritte in der Entwicklung der Binnenregionen stehen nach wie vor aus – auch sechs Jahre nach der Revolution. Die Inklusion der revoltierenden Jugend sowohl aus dem Hinterland als auch aus den zersiedelten Vororten der größeren Städte scheiterte bislang, und zwar in ökonomischer wie politischer Hinsicht. Schon an den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes am 23. Oktober 2011 beteiligte sich nur jeder zweite Tunesier. Dabei blieben bemerkenswerterweise gerade junge Menschen und die Bewohner aus denjenigen Regionen, in welchen die Revolutionsbewegung besonders stark war, der Abstimmung fern.

Politische Institutionen verzeichnen in Tunesien konstant geringe Vertrauenswerte von unter zehn Prozent.

Der zweite Bruch ist derjenige zwischen Elite und breiter Bevölkerung. Zwar sah die Transitionsphase durch die Integration des (moderat-)islamistischen Spektrums sowie durch die Zusammenarbeit demokratischer Kräfte mit reformwilligen Akteuren des ancien régime eine Verbreiterung der regierenden Schicht. Zugleich haben sich aber große Teile der Bevölkerung, deren hochgesteckte Erwartungen an die Demokratie enttäuscht wurden, von der Politik und vor allem von den politischen Parteien abgewandt. Der Bürgersinn und das Gefühl nationaler Einigkeit aus den Revolutionstagen, wovon viele Tunesier noch heute mit glänzenden Augen berichten, haben es nicht über die Transitionsphase geschafft. Die Wahlbeteiligung, die 2014 auf unter 40 Prozent weiter absank (bei Jungwählern ging nur noch jeder fünfte zur Wahl), ist dafür nur ein Indiz. Politische Institutionen verzeichnen in Tunesien – wie in der Gesamtregion Nordafrika/Nahost – konstant geringe Vertrauenswerte von unter zehn Prozent (im Gegensatz zur Armee, der Familie oder lokalen religiösen Autoritäten, in die rund 80 Prozent der Bürger Vertrauen haben).

Die Zivilgesellschaft in Tunesien ist nach der Revolution aufgeblüht, die Zahl der Vereine und Verbände hat sich auf 20.000 verdoppelt. Wenngleich die anfängliche Euphorie abgeflaut ist, bleibt sie nach wie vor ein wichtiger Akteur (vor allem in ihrer watchdog-Funktion) und für engagierte Tunesier ein Möglichkeit, sich jenseits der Parteien politisch einzubringen. Doch finden auch hier eher die etablierten Gruppen Gehör, die sich zum Teil auf Strukturen von vor 2011 stützen können und über entsprechende Mittel und Zugänge verfügen. Die mobilizations from the margins wie beispielsweise Opferverbände der Hinterbliebenen und Verletzten der Revolution, die oft aus unteren Schichten und vernachlässigten Regionen kommen, sind im öffentlichen Diskurs dagegen kaum präsent. Aufgrund mangelnder Strukturen in den Binnenregionen, aber auch wegen des dort fehlenden Bewusstseins droht gesellschaftliches Engagement (mit all den positiven Folgen, die dies individuell und kollektiv mit sich bringt) zum Privileg der städtischen Jugend aus der Mittel- und Oberschicht zu werden. Gesellschaftliche Brüche würden damit weiter verstärkt.

Drei Hauptgründe können für die Kluft zwischen Eliten und Bürgern bzw. die verbreitete politische Apathie angeführt werden. Erstens hat sich die wirtschaftliche Situation für die meisten Tunesier seit der Revolution nicht verbessert, eine materielle „Demokratie-Dividende“ blieb aus. Selbst wenn die Ursachen für die Wirtschaftskrise strukturell aus der Zeit vor der Revolution stammen oder vom politischen System eigentlich unabhängig sind, wie die Terror-Anschläge des Jahres 2015, ist die „Transformations-Geduld“ vieler Tunesier ausgereizt. Mit den Preissteigerungen gerade für Lebensmittel und anderen Alltagsproblemen konfrontiert, konzentriert man sich vorwiegend auf das eigene Durchkommen. Zweitens ist die „Parteienkultur“ in einem nach wie vor sehr unreifen Zustand. Mit rund 200 registrierten Parteien ist die politische Landschaft nicht nur zersplittert (gerade im modernistischen Lager), sondern auch von einem wirklich demokratischen (partei-)politischen Bewusstsein noch ein gutes Stück entfernt. Weite Teile der Eliten wie der Bürger begreifen Parteien nicht als Transmissionsriemen für die Interessen einer (Teil-)Öffentlichkeit oder gesamtgesellschaftlicher Ideen, sondern als Vehikel für persönliches Fortkommen. Interne Dauerkrisen und die öffentlich mit harten Bandagen ausgetragenen machtpolitischen Streitereien gerade auch in Regierungsparteien tun ihr Übriges, um politisches Engagement zu diskreditieren.

Drittens sind mit den oben erläuterten im Kern begrüßenswerten Kompromissen die beiden großen Mobilisierungsmotive für die tunesische Jugend entfallen – der Kampf für einen Neuanfang im Sinne der Revolution (2010/2011) und der Kampf gegen eine drohende Islamisierung durch eine übermächtige Ennahda (2012 bis 2014). Bisher gelang es nicht, die Energie der tunesischen Jugend in nachhaltiges Engagement für die Institutionen der Demokratie zu übersetzen. Vielmehr sind im Zuge der Koalitions- und Einheitsregierungen sowie mit der dominanten Rolle Essebsis (dessen innenpolitische Kompetenzen als Staatspräsident verfassungsrechtlich im Prinzip begrenzt wären) und Ghannouchis (der offiziell nicht einmal ein Regierungsamt ausübt) Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten noch unklarer geworden. Institutionelle Prozesse, etwa zwischen Legislative und Exekutive, können sich nur zögerlich einspielen, da die wichtigsten Entscheidungen informell getroffen werden. Protest und konstruktiv gemeintes Engagement finden oft kein Ziel mehr. Zudem gibt es keine effektive Opposition innerhalb des Systems. Dies schafft wiederum radikalen Gruppen wie Salafisten oder Dschihadisten Raum und treibt ihnen diejenigen zu, die mit dem Status quo unzufrieden sind.

„Die Revolution hat den tiefen Bruch aufgezeigt zwischen den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eliten und den marginalisierten Massen der traditionellen Gesellschaft, die den revolutionären Prozess auslösten“, konstatierte 2014 der tunesische Historiker Mustapha Kraiem. Letztere würden diese Marginalisieru ng jedoch nicht länger hinnehmen und da die politischen Parteien „nicht mit der Gesellschaft verwoben“ seien, würde sich der Graben zwischen den Regierenden und Regierten zunehmend vergrößern. Wenngleich solche Prozesse erfahrungsgemäß eher in Dekaden zu bewerten sind, wirkt es bitter, dass drei Jahre Transformation später – und ungeachtet der umfassenden internationalen Unterstützung Tunesiens – dieser Befund nach wie vor gilt. Dabei überlappen und potenzieren sich die beiden fortdauernden Konfliktlinien Zentrum-Peripherie und Elite-Bevölkerung. Sie bergen damit ein Risiko nicht nur für die Konsolidierung der tunesischen Demokratie, sondern generell für die Stabilität des Landes.

Fazit: Die tunesische Ausnahme?

Welche Schlüsse können aus dem tunesischen Fall gezogen werden für die komplexe und bislang weithin destabilisierend wirkende Transformation der arabischen Welt? Die internen wie geopolitischen Voraussetzungen für eine friedliche Demokratisierung in Tunesien sind freilich spezifisch und waren von Anfang an besser als andernorts in der arabischen Welt – von einem relativ hohen Bildungsstand über eine konfessionell und ethnisch weitgehend homogene Bevölkerung bis hin zur wirtschaftlichen Verwobenheit mit Europa und einer traditionellen Offenheit des Landes. Als Demokratisierungs-Blaupause kann das kleine nordafrikanische Land deshalb nicht dienen. Gleichwohl bleibt es, wie Angela Merkel bei ihrem Besuch im März 2017 vor dem tunesischen Parlament erklärte, ein „Leuchtturm der Hoffnung“. Denn Tunesien hat einen Weg beschritten, der seinen Bürgern mehr politische und ökonomische Teilhabe ermöglicht. Es hat gezeigt, dass die tiefen Brüche in den arabischen Gesellschaften auch friedlich verhandelt und neue Machtkonstellationen im Dialog austariert werden können – so mühsam und langwierig dieser Weg auch sein mag.

Voraussetzung für eine erfolgreiche „Moderation“ solcher Konfliktlinien ist – dies jedenfalls zeigt das Beispiel Tunesien – nicht nur die Bereitschaft und Einsicht der maßgeblichen Akteure, sondern auch das interne Kräfteverhältnis, das eben diese Einsicht wachsen lässt. Dazu kann internationaler Druck gerade in denjenigen Staaten beitragen, die wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch auf Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen sind. Wichtiger noch aber ist es, im Land selbst die politische Kultur bei Eliten und in der Gesellschaft insgesamt in diesem Sinne zu unterstützen. Zwar kann eine zu offensive und apodiktische Einmischung von außen auch kontraproduktiv wirken – gerade vonseiten eines in seiner moralischen Glaubwürdigkeit diskreditierten und gern unter Imperialismusverdacht gestellten Westens. Doch sind internationale Akteure in enger Abstimmung mit lokalen Partnern durchaus in der Lage, bei der Etablierung geeigneter Dialogformen und Kooperationsmechanismen zu helfen sowie entsprechende Bildungsprogramme zu fördern.

Dabei dürfen sie aber nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Entwicklungszusammenarbeit und Demokratieförderung bergen immer auch das Risiko, bestehende Machtstrukturen zu verfestigen und damit gesellschaftliche Gräben offen zu halten. Internationale Organisationen arbeiten in ihren Einsatzländern oft ganz zwangsläufig eher mit denjenigen zusammen, die ihnen soziokulturell möglichst nahe stehen, die „die gleiche Sprache“ sprechen. Nicht zuletzt in Tunesien, wo nach 2011 eine Vielzahl neuer und mit dem Land nicht unbedingt vertrauter Akteure aus dem Ausland aufgetreten ist, zeigt sich, wie begehrt manche lokale Partner sind, die bereits über bestimmte Management-Qualitäten oder ein internationales Profil verfügen, während der Zugang zu anderen Gruppen und Schichten verschlossen bleibt. Hier ist mehr Kreativität in den Formen der Begleitung und Unterstützung von Personen und Gruppen gefragt sowie mehr politischer Mut, die dominanten Eliten dieser Länder an ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu erinnern. Dies stellt neue Herausforderungen an die deutsche und europäische Außenpolitik in der Region, die noch differenzierter werden und sich stärker auf die „Tiefe“ der arabischen Gesellschaften einlassen muss.

Denn so offen der Ausgang der arabischen Transformation sein mag: Die trügerische Friedhofsruhe vergangener Zeiten, als man sich mit „starken Männern“ allein arrangieren zu können glaubte, wird nicht zurückkehren, jedenfalls auf mittlere und längere Sicht nicht. Der authoritarian bargain – der unumschränkte Herrscher garantiert Sicherheit und Wohlstand, wofür die Bürger auf ihre Freiheitsrechte verzichten – ist ein politisches Auslaufmodell in der arabischen Welt. Dafür sprechen grundsätzliche Entwicklungen wie die Demografie und die ökonomischen Schwierigkeiten der arabischen Staaten. Die rohstoffarmen Länder und selbst Öl-Staaten wie Saudi-Arabien sind heute gezwungen, ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Der Abschied vom Rentierstaats-Modell aber wird ohne mehr Freiheitsräume für die Bürger kaum zu bewältigen sein. Hatte die Generation der Staatsgründer ihren Machtanspruch noch „historisch“ rechtfertigen können, bröckelt nun die Legitimationsbasis der Regime, die nicht in der Lage sind, Zukunftsperspektiven für ihre Bevölkerung zu entwerfen. Die gegenwärtig eskalierenden zwischenstaatlichen oder konfessionellen Spannungen in der Region mögen – entsprechend propagandistisch aufbereitet – zunächst auf manche Herrschaftsstrukturen stabilisierend wirken. Doch auf Dauer wird sich eine zunehmend vernetzte und nach individuellen Lebenschancen strebende Jugend, die in den arabischen Ländern schon heute die Bevölkerungsmehrheit ausmacht, damit nicht ruhig stellen lassen.

Der ''authoritarian bargain'' ist ein politisches Auslaufmodell in der arabischen Welt.

Diese strukturellen Dynamiken, die schon den Protesten und Umbrüchen im Zuge des „Arabischen Frühlings“ 2010/2011 zu Grunde lagen, sind nach wie vor vorhanden. Parallel zur gegenwärtigen geopolitischen Neuordnung der arabischen Welt werden deshalb auch die nationalen Gesellschaftsverträge letztlich neu verhandelt werden müssen. Freilich wohnt diesen „Aushandlungsprozessen“ ein weiteres Gewalt- und Destabilisierungspotenzial inne; aber eben auch die Chance auf die Herausbildung inklusiverer (und damit nachhaltigerer) Regierungs- und Entwicklungsmodelle. Verlauf und Ausgang der komplexen Transformation in der arabischen Welt werden sich jedenfalls auch daran entscheiden, ob es gelingt, Konfliktlinien wie zwischen Islamisten und Modernisten oder Zentrum und Peripherie, aber auch diejenigen zwischen den Generationen oder zwischen Konfessionen und Ethnien friedlich zu bearbeiten und dabei eine jeweils geeignete landesspezifische Balance zwischen Kontinuität und Wandel zu finden.

Es war und ist kein Naturgesetz, dass der Zusammenbruch alter Ordnungsmuster, wie sie der „Arabische Frühling“ eingeleitet hat, in gewalterfülltes Chaos oder autokratische Restauration mündet. Dafür steht Tunesien bis heute. Und vielleicht ist es gut, dass jeden Morgen die Schulkinder dieses Landes daran erinnern, wenn sie mit ihrer Nationalhymne die Verszeilen des tunesischen Dichters Aboul Kacem Chebbi singen: „Wenn eines Tages das Volk sich zum Leben entschließt / Dann muss das Schicksal sich beugen / Die Nacht muss weichen / Und die Fesseln werden gebrochen.“

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Dr. Edmund Ratka ist Referent im Team Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor war er Projektassistent im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien.

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