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Interview: Die Provinz schläft nicht

von Jürgen Wiebicke

Jürgen Wiebicke: Warum wir neu über unseren Zusammenhalt nachdenken müssen

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Kurt Tucholsky hat zu Zeiten der Weimarer Republik den Hauptstadtjournalisten empfohlen, sich in der „Provinz“ umzusehen, denn hier säßen die „Massen“, die über die Zukunft Deutschlands entschieden und die – anders als fortschrittlich und demokratisch gesinnte Großstädter – viel stärker von einer reaktionären Gesinnung geprägt seien. Wie viel „Tucholsky“ steckte in Ihrer Motivation, einen Monat lang von Köln nach Bielefeld zu wandern?

Jürgen Wiebicke: Fünfzig Prozent Tucholsky, und zwar deshalb, weil er recht damit hatte, dass man nicht nur die Großstadtperspektive haben sollte, dass diese sogar borniert sein kann. Wer die Gesellschaft verstehen will, muss auch mit Menschen auf dem Land sprechen. Unrecht hatte Tucholsky aber darin, dass er das Land oder das Ländliche automatisch mit reaktionärem Denken in Verbindung gebracht hat – als ob der Fortschritt nur in der Stadt zu Hause wäre und der Rückschritt in der Provinz.

In den USA haben die Zentren an den Küsten eher für Hillary Clinton und die gesamte Mitte eher für Donald Trump gestimmt. Ist das nicht ein Anzeichen für die unterschiedlichen Einstellungen und Befindlichkeiten in Stadt und Land?

Jürgen Wiebicke: Auch das gehört zu den Gewissheiten, die sich gerade in Auflösung befinden. Wir wissen heute nicht mehr mit Bestimmtheit, wo modernes Leben und wo der Rückschritt beheimatet ist. Und zwar deshalb, weil die tiefe gesellschaftliche Verunsicherung in allen Milieus zu Hause ist. Sie erfasst den Bauern auf dem Land genauso wie den Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns mit Sitz in der Großstadt. Dass wie selbstverständlich fortgeschrieben wird, was gestern galt, trifft auch auf dem Land nicht mehr zu. Kein Bauer, der einen Acker besitzt, weiß – schon wegen der explodierenden Bodenpreise – mehr, welches Produkt er in drei oder fünf Jahren anbauen wird. Am Niederrhein, einem Hotspot der Blumenindustrie, sagte mir ein Bauer, dass er seinen Sohn gerade in die USA geschickt habe, damit er dort moderne Methoden erlerne. Soviel zum Thema: In der Provinz wird geschlafen.

„Wandertagebücher“ sind seit Hape Kerkeling fast ein eigenes Genre. Da spielen Weltflucht und Weltmisstrauen oft eine wichtige Rolle. Ist es so, dass Sie den üblichen Methoden der Wahrheitsfindung und Meinungsermittlung nicht mehr über den Weg trauen, beispielsweise der Demoskopie? Inwiefern ist Ihr Wandertagebuch – überspitzt formuliert – eine Antwort auf den Vorwurf der „Lügenpresse“?

Jürgen Wiebicke: Spätestens seit der Wahl Donald Trumps muss man sich die Frage stellen: Bewege ich mich innerhalb einer Blase, in einer Lebenswelt, die kulturell geschlossen ist? Oder führe ich ein Leben mit möglichst vielen verschiedenen Kontaktpunkten – was heißt, dass ich auch mit Menschen zu tun habe, die meinen Lebensstil nicht teilen, nicht meiner Meinung sind und mich möglicherweise mit ihrer Gesinnung ärgern? Heute kommt es wesentlich darauf an, dass wir wieder in einer gemeinsamen Welt leben wollen. Mein Befund ist da im Moment eher negativ. Auf die Vertrauenskrise der Institutionen, die Sie angesprochen haben, kann die Antwort nur sein, dass diese eine andere Form der Ansprache wählen, die viel direkter ist. Der große französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser sagte mir kürzlich, wir müssten mit Wärme und Vernunft aufklärerisch auf die Menschen einwirken – wobei bemerkenswert ist, dass er „Wärme“ an erster Stelle genannt hat.

„Zu Fuß durch ein nervöses Land“ heißt Ihr Buch, und Sie sagen, Sie hätten auf Ihrer Wanderung eigentlich keinen einzigen Menschen getroffen, der seine Lebensumstände als sicher bezeichnet hätte. Woher kommt diese Verunsicherung, wenn es den Menschen doch, soweit es die ökonomischen Rahmendaten aussagen, relativ gut geht?

Jürgen Wiebicke: Wenn selbst ein Bauer – früher ein Beruf, der beständiger nicht sein konnte – heute nicht mehr sagen kann, welches Produkt er demnächst herstellen wird, und auch nicht sicher sein kann, ob er im Wettbewerb bestehen wird, dann ist das ein Anzeichen für die Tiefe des Strukturwandels, der von Großstädtern übrigens oft nicht wahrgenommen wird. Die Unsicherheiten haben inzwischen jeden Lebensbereich erfasst, wobei die existenziell bedrohliche Frage lautet: Was ändert die Digitalisierung an meiner Arbeit?

Aber technischer Fortschritt und Rationalisierung sind doch eigentlich alte Geschichten!

Jürgen Wiebicke: Ja, und dennoch ahnen viele, dass es über das bisher bekannte Maß hinausgeht. Studien zufolge steht jeder zweite Arbeitsplatz im Dienstleistungsbereich infrage. Weil sich diese Unsicherheit eingenistet hat, spreche ich von einem nervösen Land.

Da Sie von den ökonomischen Rahmendaten sprechen: Mein Ansatz ist, dass man nicht auf die Mitte schauen sollte, wenn man verstehen will, was sich in einer Gesellschaft verändert, sondern auf die Ränder: auf Millionäre und Flaschensammler sozusagen.

Man hat Sie schon gefragt, wie weit wir davon entfernt sind, dass diese Nervosität in Angst umschlägt. Ich nenne das mal den „Weimar-Punkt“. Spielt da nicht auch ein übersteigerter Alarmismus eine Rolle?

Jürgen Wiebicke: Natürlich müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht verrückt machen und zu Alarmisten werden. Nervosität muss nicht in Angst umschlagen. Was ich feststelle, ist ein Gefühl der Labilität, das jeden zu erfassen scheint – egal, ob gut verdienend oder arm, mit festem Arbeitsvertrag oder ohne.

Vor allem darf man nicht übersehen, dass man aus dieser Nervosität auch einiges machen kann. Deswegen heißt der Untertitel des Buches „Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält“.

Die entscheidende Frage lautet für mich, wie wir neue Formen des Zusammenhalts organisieren und unterstützen, wenn die alten nicht einfach fortgeschrieben werden können. Oft sind es Formen von Geselligkeit, wie vielleicht ein Schützenverein, die einen „Kitt“ darstellen. Aber Schützenvereine haben ein demografisches Problem. Da wachsen die Jüngeren nicht mehr selbstverständlich hinein.

Sie sagen, den Menschen sei in der Globalisierung das „Grundvertrauen in die Selbstwirksamkeit“ verloren gegangen. Können Sie das erläutern?

Jürgen Wiebicke: Ein Gefühl der Selbstwirksamkeit resultiert aus der Überzeugung, dass es auf mich ankommt, dass mein Wirken gefragt ist und etwas verändert. Das Gegenteil sind Ohnmachtsgefühle, Resignation und pessimistische Lähmung. Meine Beobachtung ist, dass so etwas inzwischen sogar die Spitze unserer Gesellschaft erreicht hat. Selbst ein Manager, der vermeintlich „am Steuer“ sitzt, erklärt spätestens nach dem dritten Glas Bier, dass er nur ein „Rädchen im Getriebe“ und den Prozessen ausgeliefert sei, die man nicht gestalte, sondern nur ertrage.

Ich frage mich, ob diejenigen, die sich besonders lautstark darüber beschweren, nicht gefragt zu werden und nichts beeinflussen zu können, wirklich immer bereit sind, dann auch selbst aktiv zu werden, wenn sie tatsächlich angesprochen sind. Daher die Frage: Wie stärken wir das fehlende Grundvertrauen in die Selbstwirksamkeit?

Jürgen Wiebicke: Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir uns zusammentun. Nur wissen viele heute nicht mehr, wie und wo. Demokratie ist aber darauf angewiesen, dass möglichst viele ein Wissen haben, wie man zusammenfindet. Als Radikaldemokrat verweise ich darauf, dass Menschen ein besseres Leben führen, wenn sie von unten her die Verhältnisse mitgestalten. Wichtig ist, dass sie auf lokaler Ebene etwas gemeinsam entwickeln. Das ist der Anfang. Vor der eigenen Haustür können wir die Erfahrung machen, dass es auf uns ankommt. Dass es einen Unterschied macht, ob ich mich engagiere oder nicht. In meinem Stadtteil gibt es eine Flüchtlingsinitiative mit Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus. Im Grunde ist es ein bürgerliches Engagement, nicht etwa ein linksalternativ-christliches Nischenprojekt. Ein klassisches Demokratie-Labor. Menschen machen Politik, ohne das selber so zu nennen. So etwas hat Zukunft, weil wir es mit einer enormen „Geselligkeitskrise“ zu tun haben und die Menschen wieder verstehen müssen, wo man sich trifft, um die Verhältnisse zu beeinflussen. Die Demokratie braucht analoge Orte.

In Ihrem neuesten Buch „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ lautet Regel 2: „Mache dir die Welt zum Dorf!“ Das klingt, offen gesagt, etwas sozialromantisch und passt so gar nicht zu dem unidyllischen Bild, das Sie in Ihrem anderen Buch vom modernen Landleben zeichnen.

Jürgen Wiebicke: Wenn ich sage: „Mache dir die Welt zum Dorf“, heißt das nicht: Wir ziehen aufs Land und machen einen Kibbuz auf. Diese „Regel“ zieht eine Konsequenz aus der Globalisierung, denn wir kommen nicht damit klar, dass Algorithmen eine Aktie rauf-oder runtergehen lassen, dass die Wall Street mein Leben beeinflusst oder eine brennende Textilfabrik in Pakistan mein Einkaufsverhalten ändern soll. Das sind Dinge, die uns überfordern. „Dorf“ ist hier eine Metapher, bei der es nicht um Leben auf dem Land geht. Denn die Dörfer, die ich meine, kann man auch in der Großstadt gründen. Man versucht, Formen von radikaler Demokratie oder von Geselligkeit – oder wie man es nennen möchte – herzustellen. Das ist die Idee der sozialen Stadt, in der Menschen aufeinander aufpassen, in der keiner, der alt und schwer krank ist, in Einsamkeit gerät oder wo man sich um Flüchtlinge kümmert. Eine solche aktive Zivilgesellschaft ist eine Antwort auf die Globalisierung.

Sie beschreiben, wie Sie beim Besuch eines Schützenfests in Dormagen oder bei der Wallfahrt in Kevelaer von einer Demut und Rührung erfasst werden, die Sie überrascht hat. Brauchen wir mehr urbanen Respekt vor ländlichen Lebensformen und Traditionen?

Jürgen Wiebicke: Ja, aber ich meine auch, dass sich die Lebensformen und Traditionen verändern. Das ist auch gut so. Der erste Schütze, den ich getroffen habe, ist schwarzer Hautfarbe und hat mir fröhlich davon erzählt, dass es auch schwule Schützen gibt. Das hat mein Klischeebild von den vermeintlich konservativen Schützen irritiert. Mich bewegt dabei, dass es einfacher ist, Traditionen und Rituale abzuschaffen, als die Frage zu beantworten, was danach kommen soll. Die vollends durchindividualisierte Gesellschaft, die meint, dass nur das gepflegte Eigeninteresse dafür sorgen wird, dass es allen gut geht, halte ich für ein Märchen. Deswegen glaube ich auch, dass man neu über Zusammenhalt nachdenken muss.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 15. März 2017.

Literatur

Wiebicke, Jürgen: Zehn Regeln für Demokratie-Retter, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 112 Seiten, 5,00 Euro.

Wiebicke, Jürgen: Zu Fuß durch ein nervöses Land. Was uns zusammenhält, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 336 Seiten, 19,99 Euro.

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Jürgen Wiebicke, geboren 1962 in Köln, Journalist und Schriftsteller, moderiert jeden Freitagabend in WDR5 „Das Philosophische Radio“. Ende 2016 veröffentlichte er das Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält“.

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