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Clemens Bilan, epa, picture alliance

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Durch und durch europäisch

Heute ist Belarus abhängig von Moskau – die demokratische Opposition aber will das Land nach Westen führen

Das Lukaschenka-Regime kettet Belarus immer enger an Russland. Die demokratischen Kräfte aber wollen eine Hinwendung nach Westen und sprechen sogar von einem Beitritt zur EU. Das klingt heute utopisch, langfristig aber liegt eine EU-Orientierung des Landes auch in unserem Interesse. Schon heute bedarf es daher einer Osterweiterung unseres Bewusstseins – und Belarus ist in vieler Hinsicht „überraschend“ europäisch.

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Wenn im Juni 2024 mehr als 400 Millionen EU-Bürger zur Stimmabgabe bei der Europawahl aufgerufen sein werden, entspricht dies nur gut der Hälfte aller Einwohner unseres Kontinents. Die anderen sind zu jung oder leben in einem Staat außerhalb der Europäischen Union. Das bedeutet: entweder in einem Land, das die EU gerade erst verlassen hat; in einem der wenigen Länder, die ihr auf keinen Fall beitreten wollen; oder einem der vielen Länder, die den Beitritt gar nicht abwarten können. Oder in Belarus.

Während das Land zwischen Dnjepr und Bug unter der Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka vom Westen heute so isoliert ist wie nie zuvor und immer tiefer in den russischen Orbit hineingesogen wird, setzten die demokratischen Kräfte im Exil im August 2023 bei ihrer Konferenz zum dritten Jahrestag der gefälschten Wahlen von 2020 ein beachtliches Zeichen: Sie verabschiedeten eine Declaration of Future Membership of Belarus in the European Union und kündigten an, ihr Land aus allen russisch dominierten Bündnissystemen hinausführen zu wollen. Damit vollzieht die Demokratiebewegung, die immerhin seit der stolen election von 2020 für sich in Anspruch nimmt, mit Sviatlana Tsikhanouskaya an der Spitze die Mehrheit des belarussischen Volkes zu vertreten, sowohl einen klaren Bruch mit der langjährigen Schaukelpolitik des Regimes als auch den Träumereien, das Land könne eine neutrale Insel inmitten geopolitischer Orkane sein.

Die Reaktionen auf das Papier waren erwartungsgemäß unterschiedlich. Die einen sehen darin reine Fantasterei – die endgültige Entkopplung der „Exilopposition“ von der Realität im Heimatland. Andere gratulierten den demokratischen Kräften dafür, endlich eine visionäre Richtung aufzuzeigen, statt der von Propaganda und Angst überformten öffentlichen Meinung hinterherzulaufen.

Der EU-Vertrag sieht bekanntlich vor, dass „jeder europäische Staat“, der die gemeinsamen Werte achtet, beantragen kann, Mitglied der Union zu werden (Artikel 49). Doch obwohl Belarus mit dem Label „letzte Diktatur Europas“ versehen wird, wird in allerlei Verlautbarungen regelmäßig so getan, als hätten Belarus und Europa nichts miteinander zu tun oder seien gar einander ausschließende Gegenpole. Mental endet, gerade für Menschen im Westen, „Europa“ oft an der Außengrenze der EU. Da es aber für eine (künftige) Erweiterung der Europäischen Union der Zustimmung aller Mitglieder bedarf, ist es entscheidend, schon heute an einer „mentalen Osterweiterung“ zu arbeiten, um Länder wie Moldau, die Ukraine und eben auch Belarus fest in unserem gemeinsamen europäischen Bewusstsein zu verankern. Gerade Belarus ist sowohl geografisch als auch historisch-kulturell durch und durch europäisch – und wäre im Fall einer demokratischen Transition ein Partnerland, von dem die EU in vielerlei Hinsicht profitieren könnte.

 

Geografisch mittendrin

Mit dem Attribut „europäisch“ verbindet sich gern die Vorstellung eines besonderen Kulturraums, dem anzugehören viele als erstrebenswertes zivilisatorisches Qualitätsmerkmal erachten. Auch wenn die Frage der geografischen Abgrenzung Europas, insbesondere nach Asien, seit Jahrhunderten umstritten ist, besteht doch weitgehende Einigkeit, diese Linie irgendwo am Ural zu ziehen, also knapp 3.500 Kilometer östlich von Brüssel. Damit liegen 40 Prozent der Fläche Europas geografisch im Bereich der Russländischen Föderation – und Belarus im Zentrum des Kontinents. Tatsächlich hält sich eine ganze Reihe von Orten für den Mittelpunkt Europas, doch immerhin fünf Berechnungsmethoden sehen diesen Punkt in der Republik Belarus (oder in unmittelbarer Nähe in Polen beziehungsweise Litauen). Besonders „europäisch“ ist vielleicht auch, dass es sich bei Belarus um den mit Abstand größten Binnenstaat des Kontinents handelt – Europa umgeben von Europa ohne Hinterausgang über die Weltmeere.

 

Geschichtlich tief verflochten

Historiker aus Belarus führen die Ursprünge der belarussischen Staatlichkeit oft auf die frühmittelalterlichen Fürstentümer von Polazk und Turau zurück. Beide gehörten, bei einem hohen Grad an Eigenständigkeit, zum Verband der Kiewer Rus, einem multiethnischen, vermutlich von Skandinaviern gegründeten Reich, das in engem, wenn auch nicht immer konfliktfreiem Kontakt mit dem Oströmischen Imperium stand. Neben Handel und Kulturaustausch kam über diese Linie das Christentum nach Osteuropa – die Belarussen legen Wert darauf, direkt über Byzanz missioniert worden zu sein, ohne den „Umweg“ über Kiew. Nachdem der Mongolensturm den Zerfall dieses Reiches beschleunigt hatte, sortierten sich die belarussischen (und heute westukrainischen) Lande neu und wurden Teil des Großfürstentums Litauen. Ausgehend von der Region zwischen Wilna und Nawahradak vollzog dieser Staat im frühen 14. Jahrhundert unter Großfürst Gediminas (belarussisch: Hiedzimin) dank einer Mischung aus Allianzen, Schutzgarantien und Eroberungen einen atemberaubenden Aufstieg zur europäischen Großmacht. Sein Enkel Jogaila ließ sich katholisch taufen und begründete durch die Hochzeit mit der Krakauer Prinzessin Jadwiga im Jahr 1386 die Linie der Jagiellonen, die zwei Jahrhunderte lang das Königreich Polen regieren sollten, in engem Bündnis mit Litauen. Nach dem gemeinsamen entscheidenden Sieg über den Deutschen Orden im Jahr 1410 avancierte das Großfürstentum, mit dem heutigen Belarus in seinem Zentrum, gar zum größten Staat in Europa – und trotz teils verheerender Kriege, meist gegen Moskowien, erlebte das Land in den folgenden Jahrhunderten eine erstaunliche Blütezeit.

Auf einer Fläche knapp so groß wie das heutige Deutschland und Frankreich zusammen genommen vereinte das Großfürstentum Litauen eine Vielzahl von Völkern, Sprachen und Religionen. War die Landbevölkerung überwiegend ruthenisch und baltisch, lebten in den Städten, viele gegründet nach Magdeburger Recht, zudem Juden, Polen, Deutsche oder Russen. Die Hauptstadt Wilna trug als bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens den Beinamen „Jerusalem des Nordens“ und auch etwa 300.000 tatarische Muslime fanden im Großfürstentum ihre Heimat. Katholische Kirchtürme ragten neben orthodoxen gen Himmel und Ende des 16. Jahrhunderts entstand sogar eine einzigartige Crossover-Konfession. Die „Griechisch-Katholische Kirche“, papsttreu, aber orthodox, avancierte – wenn auch mit staatlichem Druck – für etwa 150 Jahre zu einer Art „Nationalreligion“ der Belarussen und westlichen Ukrainer. Zur selben Zeit erfasste auch die Reformation weite Teile des Landes, insbesondere im heutigen Belarus, doch blieb sie weitgehend beschränkt auf Kreise der Eliten. Theologische Dispute regelte man zumeist nicht mit Fackel und Mistgabel, sondern mit Feder und Pergament. Zentrale Sprachen der Auseinandersetzung waren Latein, in wachsendem Maße Polnisch sowie Altbelarussisch. In jener Sprache war auch das „Litauische Statut“ verfasst, das bereits im 16. Jahrhundert eine frühmoderne Rechtstaatlichkeit einführte.

Die Verbindungen zu anderen europäischen Staaten reichten von Handel – in Polazk und Wizebsk bestanden Niederlassungen der Hanse – über Kultur bis zur höchsten Politik. Polen und das Großfürstentum Litauen, deren Verbindung seit 1569 zur „Realunion“ erhoben wurde, bildeten eine Adelsrepublik mit Wahlmonarchie und beriefen im Laufe der Jahrhunderte ihre Könige aus Frankreich, Schweden, Sachsen oder Ungarn. Königsgattin Bona Sforza brachte aus Italien eine Vielzahl italienischer Künstler und Architekten ins Land. Die Renaissance hielt Einzug und brachte Persönlichkeiten hervor wie den großen Humanisten und Buchdrucker Franzysk Skaryna. Die Bauten und Fassaden des darauffolgenden Barocks prägen bis heute neben der Vilniuser Altstadt auch viele Orte in Belarus. Kurz vor der erzwungenen Teilung durch Russland, Preußen und Österreich verabschiedete das polnisch-litauische Parlament im Jahr 1791 noch die erste moderne Verfassung Europas – vier Monate früher als das revolutionäre Frankreich. In mancher Hinsicht war dieses alte „Litauen“ ein Prototyp der heutigen Europäischen Union – zu einer Zeit, als in Westeuropa absolute Monarchien den Ton angaben.

 

Am Ground Zero der großen Katastrophen Europas

Beim Thema „Europäischer Imperialismus“ denken wohl viele zunächst an Kolumbus und ferne Überseekolonien. Belarus hingegen erlebte dieses „Phanomen“ mitten auf dem Kontinent nach der Eroberung durch Russland Ende des 18. Jahrhunderts. Gleich zu Beginn dieser Periode zog zudem Napoleons Grande Armée bei ihrem „Russlandfeldzug“ zweimal durch das nördliche Belarus und verwüstete es erheblich. Drei Aufstände gegen die russischen Okkupanten endeten im Desaster – der Zar verhängte heftige Repressionen, unter anderem gegen Sprache, Wirtschaft und Kultur, hob die alten Rechtsstatute auf und ließ symbolisch zur Tilgung der Erinnerung an Eigenständigkeit und Selbstverwaltung landesweit alle Rathäuser sprengen. Lockerungen erfolgten erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser wiederum endete im Osten zunächst mit einem Sieg der Mittelmächte und dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, benannt nach der belarussischen Stadt. Unter den Augen deutscher Besatzung proklamierten die Belarussen kurz darauf eine eigene Volksrepublik.

Doch im Gegensatz zu vielen anderen neu- oder wiedererrichteten Staaten in Ostmitteleuropa hatte diese nur kurzen Bestand. Belarus wurde nach dem polnisch-sowjetischen Krieg geteilt, der Westen kam zu Polen und der Osten wurde als „Belorussische Sowjetrepublik“ 1922 Gründungsmitglied der UdSSR. Diese wiederum brachte nach einigen „liberalen“ Jahren den „Großen Terror“ über ihre Völker, dem neben vermeintlichen Regimegegnern auch gezielt zehntausende Vertreter nationaler Eliten zum Opfer fielen, darunter zahllose Belarussen.

Schließlich wurde Belarus ein zentraler Schauplatz der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Kein Land zahlte relativ gesehen zu seiner Bevölkerungszahl im Zweiten Weltkrieg einen höheren Blutzoll – bis zu ein Drittel der Menschen verlor sein Leben, auch aufgrund des Holocausts, hatten doch Juden vor dem Krieg in Minsk und vielen anderen Städten die Bevölkerungsmehrheit oder größte ethnische Gruppe gestellt. Krieg, deutsche Vernichtungspolitik und Stalinsche Säuberungen fügten der althergebrachten sprachlichen, ethnischen und religiösen Vielfalt des Landes einen irreparablen Schaden zu. Viele Polen wurden infolge der Westverschiebung ihres Staates aus Belarus vertrieben, dafür kamen Neusiedler aus anderen Sowjetrepubliken. Beschleunigt durch industriellen Aufschwung und starke Urbanisierung sowie ein verbreitetes Stigma gegen die belarussische Sprache, die als dörflich und „rückständig“ galt, wurde das Land stärker als je zuvor russifiziert. Gleichwohl erlebten viele Menschen gerade die 1970er-Jahre als eine Blütezeit. Belarus wurde zur „Werkbank“ der UdSSR und US-Historiker Timothy Snyder kommt zu dem Schluss, dass kein Land der Verwirklichung des „sowjetischen Ideals“ so nah kam wie Belarus.

Nach der Wende war oft die Rede davon, dass die vormals kommunistischen Länder „nach Europa zurückkehren“. Damit hat sich eine westzentrierte Sicht verfestigt, die suggeriert, Ostblock und Sowjetunion hätten nichts mit „Europa“ zu tun gehabt. Dabei stammen die zentralen Vordenker des Kommunismus, von Marx und Engels über Rosa Luxemburg und Gramsci bis Trotzki und Lenin, allesamt aus Europa. Das politische Ziel der „Weltrevolution“ stellte Moskau faktisch zurück hinter ein weitestmögliches Vordringen in Europa. Angesichts des damit verbundenen Modernisierungs- und Aufholdenkens kommt Snyder ebenfalls zu dem Schluss, dass Russland „nie so europäisch“ war wie zur Zeit der Sowjetunion. Es scheint wie eine Ironie der Geschichte, dass die Auflösung dieses – zynisch gesprochen – anderen „europäischen Integrationsprojekts“ am 8. Dezember 1991 mit den Belowescher Vereinbarungen ausgerechnet in Belarus beschlossen wurde.

 

Suche nach neuer Stabilität

Das unabhängige Belarus unterzeichnete 1992 als erster Nachfolgestaat der Sowjetunion die Charta von Paris. Eine Annäherungsphase mit dem Westen gipfelte im Staatsbesuch von US-Präsident Bill Clinton im Frühjahr 1994 und die neue Verfassung erklärte außenpolitische Neutralität. Im Inneren wurde die neugewonnene Freiheit begleitet von einer Welle des nationalen Wiedererwachens, unter anderem in der Sprachpolitik. Die belarussische Sprache, die nun stark gefördert wurde, ist dem Ukrainischen nah sowie dem Polnischen und Russischen verwandt. Zu letztgenannten stand sie jedoch auch über Jahrhunderte in einem Konkurrenzverhältnis und wurde seit dem 18. Jahrhundert vor allem durch das Russische überformt und zurückgedrängt. Im Gegensatz zum Russischen beinhaltet sie aber kaum Lehnworte aus Turksprachen oder dem Mongolischen, dafür jedoch viele Begriffe aus dem Deutschen, Jiddischen und Litauischen. Eine Besonderheit ist, dass sie mit mehreren Alphabeten geschrieben wird. Neben der lateinischen und kyrillischen Schreibweise, welche wiederum bekanntlich auf dem Griechischen basiert, schrieben in früheren Zeiten zudem Juden Belarussisch mit hebräischem und Tataren mit arabischem Alphabet.

 

Aljaksandr Lukaschenka, der im Sommer 1994 in das neu geschaffene Präsidentenamt gewählt wurde, konnte (und kann) weder mit Demokratie noch Nationalkultur viel anfangen. Er sorgte für eine Re-Russifizierung, regiert autoritär im neosowjetischen Stil und führte das Land zurück Richtung Moskau, bis an den Rand einer Staatenunion. Die Beziehungen mit dem Westen verliefen fortan in Zyklen aus Tauwettern und Eiszeiten, synchron zu den „Konjunkturen“ innerer Wahlfälschung und Repression. Minsk pflegte jedoch einerseits die Mitgliedschaft in russisch dominierten Bündnissystemen – der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), dem Unionsstaat, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Eurasischen Wirtschaftsunion – und trat andererseits 2009 auch dem Programm der Östlichen Partnerschaft der EU bei. Nach dem Schockmoment der Krim-Annexion hegten manche die Hoffnung, das ewige Hin und Her könne durchbrochen werden zugunsten der selbstproklamierten Positionierung von Belarus als „osteuropäischer Schweiz“. Minsk trat im Ukrainekonflikt als „Spender regionaler Sicherheit“ durch Vermittlung auf und suchte durch eine multivektorale Außenpolitik und bessere Beziehungen zum Westen, zur Ukraine, aber auch zu Ländern wie China seine Optionen zu diversifizieren. Die innere Liberalisierung, die auch das europäische Erbe etwas stärker hervorhob, blieb bescheiden, ging aber immerhin so weit, dass Russland laut Freedom-House-Index Belarus 2018 als „letzte Diktatur Europas“ ablöste. Die Bevölkerung nutzte die Möglichkeiten der Tauwetterzeit für eine Stärkung von Business und Zivilgesellschaft, aber auch schlicht zum Reisen – kein Land der Welt hatte in dieser Zeit eine so hohe Quote an Schengenvisa wie Belarus.

 

Umfragen zu geopolitischen Einstellungen hatten seit Langem stabil gezeigt, dass sich eine Mehrheit lieber nicht geopolitisch zwischen Ost und West entscheiden will, sich bei der Frage „Russland oder EU“ aber für Russland aussprach. Dies entsprach faktisch einer Anerkennung der Realität, da Belarus nun einmal eng mit dem östlichen Nachbarn verbunden ist, doch nahm dieser Wert in den vergangenen Jahren kontinuierlich ab. Bevorzugten 2018 noch circa 60 Prozent eine Union mit Russland gegenüber einem Bündnis mit dem Westen – wovon wiederum nur 5 Prozent ein Teil Russlands werden wollten – sank dieser Wert Ende 2020 auf unter 40 Prozent. Gleichzeitig schoss erstmals, und bislang einmalig, der pro-europäische Vektor auf Platz eins – im Angesicht der Niederschlagung der Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen.

 

Kulminations- und Wendepunkt 2020

Lukaschenkas opportunistische Schaukelpolitik hatte schon immer vor allem der Absicherung seiner eigenen Herrschaft gedient. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 zeigte er, dass er bereit war, diesem Ziel alles andere unterzuordnen. Erstmals hatten sich Kandidaten aus der Mitte des Systems ins Rennen gewagt, denen eine Mehrheit der Menschen zutraute, ihr Land erfolgreich zu führen. Als ihnen diese Wahl tölpelhaft gestohlen werden sollte, gingen sie zu Hunderttausenden auf die Straße. Sie taten dies zunächst nicht im Zeichen von Geopolitik. Über Minsk und anderen belarussischen Städten wehten im Gegensatz zum ukrainischen Euro-Maidan keine EU-Fahnen. Stattdessen wählten die Protestierenden zur Einforderung ihrer Rechte das alte Symbol der Republik: die weiß-rot-weiße Fahne. Die demokratischen Kräfte im Exil nutzen heute oft den Begriff „neues Belarus“, um ihre Vision eines zukünftigen demokratischen Landes zu zeichnen.

Doch die Abwendung von postsowjetisch-paternalistischen Einstellungen zu einem freien, selbstbestimmten Leben hatte schon viel früher begonnen und fand 2020 nur ihren sichtbarsten Ausdruck. Umfragen zeigen, dass der Anteil der Status-quo-Befürworter gegenüber denen, die gesellschaftlichen Wandel wünschen, schon zwischen 2010 und 2016 von einem Verhältnis von 48 zu 41 hin zu einem Verhältnis von 25 zu 67 kippte. Ein tieferer Blick offenbart eine auch im Vergleich zu anderen postsowjetischen Ländern enorme Kluft zwischen den Generationen. Dies beginnt bereits etwa ab dem Jahrgang 1975 und verstärkt sich dann in beide Richtungen.

Wer nach dem Ende der Sowjetunion geboren ist, begrüßt deren Untergang dreimal häufiger als Menschen über 60. Die Jugend bezieht ihre Nachrichten aus dem Internet und guckt Hollywoodfilme, während ältere Menschen staatliche Fernsehnachrichten und Sowjetstreifen schauen. Am deutlichsten ist der Bruch bei der Frage nach dem politischen System: Eine klare Mehrheit der unter 45-Jährigen hält die westliche Demokratie für das beste System, bei den unter 30-Jährigen sogar zu 60 Prozent. Das Sowjetsystem befürwortet in dieser Generation nicht mal jeder Zehnte. Bei den Senioren sind diese Werte spiegelbildlich umgekehrt.

 

Einerseits war es Lukaschenka selbst, der den Entwicklungen 2020 den geopolitischen Spin verlieh und zeigte, in welche Himmelsrichtung man sich wenden muss, um eine gefälschte Wahl durchzuprügeln. Moskau sicherte ihm Kredite zu und zeigte den Demonstranten die vielleicht entscheidende rote Linie auf, keine Verwaltungsgebäude zu stürmen, sonst drohe russische „Amtshilfe“. Auf die Niederschlagung der Proteste folgten bis heute anhaltende massive Repressionen, begleitet von einem Exodus (nicht nur) liberaler Eliten und einem Sanktionsduell mit den westlich orientierten Nachbarn. Andererseits setzen die Gruppen, die die friedlichen Proteste getragen hatten, ihre Arbeit nun im erzwungenen Exil fort, das sie meist im Westen fanden.

Schon das Eintreten für die aus der griechischen Antike hergeleitete Herrschaftsform der Demokratie kann man für etwas „Europäisches“ halten. Während die Regime in Minsk und Moskau sich – mehr oder weniger – bemühen, eine gleichnamige Fassade aufrechtzuerhalten, füllen die belarussische Zivilgesellschaft und Demokratiebewegung diesen Begriff durch eine kreative Vielzahl von Initiativen mit Leben. Viele Experten sind sich einig, dass das Erlebnis von Gemeinschaft im Angesicht eines auf rohe Gewalt setzenden Staates einen entscheidenden Bewusstseinswandel der belarussischen Gesellschaft bewirkt hat. Manche sprechen sogar vom historischen Durchbruch in der Festigung des belarussischen Nationalgedankens. Die Menschen eint der Wunsch nach einem anderen Leben und sie wissen, dass sie, anders als bislang die Menschen in Russland, 2020 bewiesen haben, dass sie sich in der demokratischen Mehrheit befinden.

 

Der Bedarf nach einer attraktiven und glaubwürdigen Alternative

Doch bedeutet die demokratische Mehrheit gegen Lukaschenka vor drei Jahren noch keine automatische Mehrheit für eine EU-Perspektive heute. Wie oben erwähnt, überwog in Umfragen zur geopolitischen Orientierung nur im Herbst 2020 kurzzeitig die Europapräferenz gegenüber pro-russischen Einstellungen. Letztgenannte „erholten“ sich seither und liegen heute etwa auf dem Niveau von 2019 bei circa 50 Prozent – gegenüber gut 25 Prozent „pro-europäischer“ Antworten.

Einerseits sind angesichts der Repressionen, staatlicher Überwachung und omnipräsenter antiwestlicher Propaganda solche Umfragewerte weder völlig überraschend noch uneingeschränkt repräsentativ. Offizielle Kanäle präsentieren den Westen als dekadent, aggressiv und imperialistisch, Russland hingegen als großen Bruder, dessen Hilfskredite seit 2020 nicht etwa den Diktator an der Macht halten, sondern „dem Land“ in schweren Zeiten helfen und dessen Soldaten Belarus vor einem Angriff der NATO beschützen. Unabhängige Nachrichten sind nur über Umwege zu finden und ihr Konsum steht vielfach unter Strafe. Grenzüberschreitende Kontakte nehmen ab, da Reisen nach Westen, auch aufgrund der dortigen restriktiven Visavergabe, stark eingeschränkt sind und auch die Sprachbarriere wächst, da das Regime den Englischunterricht an Schulen zurückfährt. Pro-europäisch orientierte Menschen sind damit in den Umfragen unterrepräsentiert, da sie sich zurückhaltender äußern, in großen Zahlen das Land verlassen haben und auch als „Influencer“ in ihrem sozialen Umfeld ausfallen.

Andererseits bleibt der ernüchternde Befund, dass sich ein erheblicher Anteil der belarussischen Bevölkerung, insbesondere die staatlichen Eliten, derzeit an Russland orientiert – aus unterschiedlichen Gründen. In qualitativen Befragungen (vor 2020) wurden oft die gemeinsame Sprache und verwandte Kultur, geteilte Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetzeit sowie „slawische Werte“ angeführt. Viele Belarussen haben familiäre Beziehungen, schauen russische Medien oder haben in Russland gearbeitet und setzen das Land deshalb nicht mit dem System Putin gleich. In der Wirtschaft, die ohnehin etwa bei der Energieversorgung schon enorm von Russland abhing, entstehen durch die Anpassung an die Sanktionen zusätzliche Pfadabhängigkeiten (bis zu 85 Prozent der belarussischen Exporte gehen heute durch oder nach Russland), auch hängen Jobs am russischen Markt. Nicht zuletzt entfaltet das Beispiel der Ukraine eine abschreckende Wirkung, zahlt sie doch ihre Hinwendung zum Westen nun mit Krieg und Gebietsverlusten. Selbst wer dies verurteilt, kann zu dem ernüchternden Schluss kommen, dass es doch besser sei, im Schatten Russlands den Kopf unten zu halten, als sich in „geopolitische Abenteuer“ zu stürzen.

Doch gerade dies ist der Punkt, an dem die demokratischen Kräfte mit ihrem Wunsch nach einer EU-Perspektive ansetzen – nicht obwohl, sondern gerade weil sämtliche Entwicklungen in ihrer Heimat gerade in die entgegengesetzte Richtung weisen. Der Krieg hat, so ihre Überzeugung, deutlich gemacht, dass der alte belarussische Traum, eine Insel der Neutralität inmitten geopolitischer Orkane zu bleiben, unwiederbringlich erledigt ist.

 

Durch die umfassende Unterstützung Moskaus beim Überfall auf die Ukraine hat sich das Minsker Regime, nachdem es zuvor die nominelle Neutralitätsklausel aus der Verfassung getilgt hatte, unzweideutig an die Seite des Aggressors gestellt. Nicht nur hat es sich damit gegenüber allen anderen Nachbarn isoliert, sondern fördert auf tragische Weise einen neoimperialen Unterwerfungsfeldzug, der seinem Wesen nach auch Belarus als Kulturnation bedroht. Die innere Russifizierung läuft entsprechend auf Hochtouren und russische Atomraketen in Belarus sichern Moskaus militärischen Zugriff. Wenn das Bündnis mit Russland jedoch Schuld, Isolation und Selbstzerstörung bedeutet und Neutralität keine Option ist – vor allem Russland akzeptiert diese nicht –, dann ist der europäische Weg die einzige sinnvolle Alternative.

Den demokratischen Kräften ist bewusst, dass es einer radikalen Veränderung der geopolitischen Lage bedarf, bevor je eine Regierung in Minsk ein formelles EU-Beitrittsgesuch stellen kann. Russland müsste infolge eines verlorenen Kriegs gegen die Ukraine mit sich selbst beschäftigt sein, während Belarus eine demokratische Transformation durchläuft. Doch auf genau dieses Szenario, das ja auch im Sinne der europäischen Nachbarn wäre, arbeiten die demokratischen Kräfte hin. Die heutige Formulierung der EU-Perspektive soll plastisch bestärken, dass Belarus in einem solchen Szenario nicht auf sich allein gestellt wäre. Die Europäische Union könnte, so die Hoffnung, in einem solch historischen Moment die Hand ausstrecken mit Angeboten enger Zusammenarbeit, Investitionen und einem Paket an Stabilisierungsmaßnahmen im Wirtschafts-, Sicherheits- und Energiebereich. In so einem Fall würde sich auch die öffentliche Meinung im Land sehr wahrscheinlich drehen.

Ein starkes demokratisches Belarus wäre auch für die EU ein vielversprechender Partner und angesichts seines hohen Bildungsniveaus, zukunftsträchtigen Wirtschaftszweigen wie dem IT- oder Elektromobilitätssektor, funktionierender Verwaltung, niedriger Korruption und starker Nachhaltigkeitsbilanz ein perspektivisch attraktiver Beitrittskandidat, der nicht zuletzt wichtige Impulse für einen – momentan utopischen – demokratischen Neustart in Russland setzen könnte. Für die EU ist daher die strategische Frage, ob sie die Herausforderung annehmen will, für die Menschen in Belarus eine solche Alternative werden zu wollen. Ohnehin steht sie vor der Aufgabe, sich signifikant weiterentwickeln zu müssen, wenn sie geopolitisch handlungsfähig bleiben, die bereits jetzt im „Warteraum“ befindlichen Länder von Albanien bis zur Ukraine aufnehmen und effektiv auf dem Kontinent und darüber hinaus Stabilität ausstrahlen will.

Mit Blick auf Belarus geht es heute aber zunächst darum, das Land unsererseits als Teil der „europäischen Familie“ zu denken und das gegenüber den Menschen und relevanten Zielgruppen in Belarus klar zu kommunizieren. Bestenfalls kann dies dazu dienen, schon heute Vorbereitungen in Form sichtbarer, konkreter Schritte der Unterstützung anzustoßen, die die Zusammenarbeit zwischen der EU und (dem pro-demokratischen) Belarus vertiefen und verstetigen. Dazu gehören Dialogformate, eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für belarussische Unternehmen und die Bewahrung der Reisefreiheit, um der Bevölkerung das Gefühl des Willkommenseins zu vermitteln.

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